Jenseits des Vertrauten

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John Burnsides jüngster Roman führt in helle Sommernächte und dunkle Abgründe. Nebenbei erzählt er von der Funktion alter und neuer Geschichten.

Es gibt Landschaften, die betritt man - und plötzlich ist die Welt - oder man selbst - eine andere. Die Insel Kvaløya, im Norden Norwegens, ist eine solche Landschaft. Wer hierherkommt, in dem kann auf einmal der Verdacht keimen, "nichts von dem, was er in seinem Leben je gesehen hatte, ob hier oder irgendwo sonst, sei real gewesen“.

Es gibt Literatur, die betritt man - und schon ist einem der vertraute Boden unter den Füßen weggerissen. John Burnsides Texte gehören dazu, auch sein jüngster Roman "In hellen Sommernächten“. Literatur bewirkt oft, was Lewis Carroll in "Alice im Wunderland“ beschrieben hat, nämlich, dass wir an etwas glauben und gleichzeitig wissen: Das ist unmöglich! Das gilt aber nicht nur fürs Lesen, denn, Hand aufs Herz: Das kann einem auch im Leben passieren. Dann denkt man: Das kann doch nicht wahr sein! Es ist aber wahr. Wenngleich nicht rational erklärbar. Nun schlägt die Stunde für Geschichten.

Unheimliche Schwebe

Die unheimliche Geschichte, die Burnside seinen Leserinnen und Lesern auftischt, ist bezüglich dieser Thematik ein Meisterwerk. Denn so unwirklich es darin zuzugehen scheint, wenn etwa Menschen verschwinden und andere sich beobachtet fühlen: Man hält sie dennoch für möglich. Und selbst wenn man kein Fan von Fantasy und Mystery ist und obwohl man bald ahnt, dass dieser Roman keine Entschlüsselung im Sinn einer eindeutigen Aufklärung bieten wird, liest man mit Spannung weiter.

John Burnside, 1955 in Schottland geboren, versucht in seiner Lyrik das Unsagbare sagbar zu machen. Auch in seinen Romanen lotet er jene Gefilde aus, die sich den Erklärungen entziehen und von denen man nicht eindeutig sagen kann, sind sie Einbildung, sind sie Wirklichkeit. In dieser Schwebe liegt etwas grauenerregend Unheimliches, und man kann dabei an Autoren wie Edgar Allen Poe und Henry James denken, die dieses meisterhaft zu Literatur zu machen verstanden.

Burnsides jüngster Roman "A Summer of Drowning“ (im Deutschen harmlos mit "In hellen Sommernächten“ übersetzt) beginnt wie ein Kriminalroman: Zwei Jungen, Zwillingsbrüder, ertrinken innerhalb von zehn Tagen auf dieselbe Weise, nämlich im stillen Meer. Zwei völlig unerklärliche Geschehnisse.

Ort der Handlung ist Kvaløya, eine norwegische Insel, auf der im Sommer die Sonne nicht untergeht, sondern die Nacht in gespenstisches Licht taucht und die Bewohner in schlaflose Nächte und so manche Halluzination.

Beobachterin des Geschehens ist Liv, die zehn Jahre danach niederschreibt, was sie als 18-Jährige erlebt hat. Sie ist eine unzuverlässliche Erzählerin. Nicht nur, weil sie eine Ich-Erzählerin ist, sondern weil man bald zu ahnen beginnt, dass es Sinn hat, ihren Erzählungen und Wahrnehmungen zu misstrauen. Nicht nur ihren, sondern Wahrnehmungen generell. Schon ertappt man sich beim Lesen dabei, nicht nur entschlüsseln zu wollen, warum die Toten tot sind und warum andere verschwinden, sondern auch, was es mit dieser Liv auf sich hat, die mit ihrer Mutter aufwächst, einer berühmten Malerin, die sich völlig aus der Welt zurückgezogen hat und nur ab und zu wie Penelope Freier empfängt, die sie nicht erhört. Als Bezugsperson gibt es nur noch den alten Kyrre, von dem Liv "die alten Geschichten“ hört.

Liv versteht sich als Spionin: Sie beobachtet Einzelgänger, die sich in Kyrres Sommerhaus zurückziehen. In diesem Sommer, von dem der Roman erzählt, ist Martin Crosbie zu Gast. Und sie bemerkt: Auch er beobachtet. Er fotografiert heimlich Mädchen, auch Liv, die dieses Geheimnis entdeckt. Dann nehmen weitere Dinge ihren Lauf.

Die Grenzen des Rationalen

Burnside überschreitet die Grenzen des Rationalen, weil auch das Leben an ihnen nicht Halt macht, und er webt dabei die "alten Geschichten“ ein, die Kyrre Liv erzählt: Schließlich sind sie Versuche, Sinn zu erschreiben, wo rational keiner gefunden werden kann. Jene Geschichte von Huldra etwa, der hübschen jungen Frau im roten Kleid, die Männer verführt und dann ins Verderben lockt, erzählt nicht von einer faktisch anwesenden Person. Das wussten auch die Alten. Aber sie vermittelt dennoch Wahres, zum Beispiel, dass Menschen "empfänglich“ sind.

Burnsides Roman lotet so nicht nur die Abgründe der menschlichen Seele aus, sondern auch die Aufgaben von Geschichten, die etwa damit zu tun haben "wie wir Zeit wahrnehmen, und mit dem, was wir für selbstverständlich hielten“. Diese Geschichten, die Liv vom alten Kyrre hört, erzählen vom Verschwinden, von Verwandlung und von Doppelgängern.

Burnsides Stärke liegt in den Beschreibungen von Natur und Atmosphäre, er malt sie geradezu in Sprache. In einem Tempo, langsam wie das Leben der Inselbewohner und still wie ihr Schweigen, beschreibt er Licht, Geräusche, Stimmungen - und Erscheinungen. Zudem weiß der Autor die Wirklichkeit ständig zu kippen, legt Fährten und Verweise, die man erst bei erneuter Lektüre entdeckt - und die doch an kein eindeutiges Ende führen. Und so ähneln sie den alten Geschichten Kyrres: "Welche Form wir der Ordnung auch geben, wie kompliziert sie auch immer aufgebaut sein mag, bleibt sie letztlich doch eine Illusion, weshalb irgendwann irgendwas aus dem Hintergrundrauschen und dem Schatten vortritt und infrage stellt, woran wir so entschlossen glauben.“

Das Unsichtbare sehen

Fast nebenbei gerät dieser Roman einer beklemmenden Mutter-Tochter-Beziehung zur Auseinandersetzung mit Malerei, mit der Bedeutung des (Selbst- und Fremd-)Bildes, mit Kunst, Glück und Zuhause. Ob in der Malerei oder mit Karten - oder in der Literatur: Hier wird versucht, in Zeichen zu bringen, was nicht gesehen werden kann und dennoch wirklich ist. Es gibt, so die Ich-Erzählerin, zwei Arten zu sehen: "Die erste ist die, die wir von Kindesbeinen an lernen, die Art, bei der wir sehen, was wir sehen sollen, und durch die wir uns hinsichtlich der Welt einig werden, indem wir suchen und finden, was, wie uns gesagt wurde, immer schon da war. Doch es gibt noch eine andere Art, und auf die bin ich aus. Es ist die Art, wie wir sehen, wenn wir uns allein in die Welt hinauswagen, gleich einem Jungen in einer alten Geschichte, der aufs Feld geht oder an den Strand. … Was er weiß, jedes trügerische Detail seines Zuhauses, zerfließt und lässt ihn in einer Welt zurück, die zu seltsam ist, um sie bezeugen zu können.“

In hellen Sommernächten

Von John Burnside. Aus dem Engl. von Bernhard Robben. Knaus 2012. 378 S., gebunden, e 20,60

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