Liebestod auf 40 mal 45 Meter dfgdfg

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Hinter der Seebühne in Bregenz verbirgt sich eine komplizierte und ausgeklügelte Technik.

Ein Bild ging um die Welt: das riesige Skelett, das letztes Jahr über das Totenbuch gebeugt den "Maskenball" auf der Seebühne Bregenz beherrschte, grub sich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Das großformatige Opernspektakel fordert hinter den Kulissen Technikern aller Sparten höchste Präzision ab. Allein die Klappe des Buches maß sechs mal 32,5 Meter. Sie musste sich lautlos heben. "Elektrisch steuern war unmöglich, weil die Frequenz die Mikrophone hätte stören könnte": Reinhard Klocker, der stellvertretende technische Leiter der Bregenzer Festspiele, wählte eine Hydraulik. Um die Verschmutzung des Sees zu vermeiden, schmierte man sie mit biologisch abbaubarem Rapsöl.

Die ganze Totenbuchseite trug 130 Personen. Allein die Krone, die "durch den Boden hindurch" kam, brachte 19 Tonnen auf die Waage. "Die Technik ist nur gut, wenn man sie nicht merkt. Sie soll zum Theater passen. Maschinen mit Krawall sind unbrauchbar, die Guillotine muss mit dem letzten Takt Musik zum Stehen kommen", meint Klocker: "Der Sarg, der wegfährt, darf nicht ruckeln, sonst schüttet der Sänger sein Glas Sekt aus. Es geht nicht um Bewegung, sondern um Verwandlung." Oper muss verzaubern, auch wenn die Guillotine, die aus dem Wasser steigt, elf Tonnen wiegt. Viele, die hinter die Bühne schauen, sind enttäuscht, weil sie sich dann nicht mehr ganz der Illusion hingeben können. 7.000 Zuseher fasst die Tribüne, "ein halbes Kraftwerk" Energie strömt in die Scheinwerfer, die die Szene in effektvolles Licht tauchen. Selbst die Lage der Lautsprecher ist ausgetüftelt: Zeitverzögerungen werden ausgeglichen, damit der Ton beim Zuseher ist, wenn der Sänger auf der Bühne den Mund aufmacht.

In Giacomo Puccinis "La Bohème", der populärsten Love-Story der klassischen Opernliteratur, ist das besonders wichtig. Das Bregenz-bewährte Duo Richard Jones und Antony McDonald, Erfinder des "Maskenball"-Skeletts, bewältigte eine extreme Aufgabe mit Bravour. Puccinis tragisches Liebespaar muss über die gigantische Seebühnen-Dimension von 6.800 Quadratmeter hinweg berühren, jeder der 6.850 Zuseher die intim-enge Atmosphäre der kargen Pariser Mansarde spüren.

Seit 1983 ist Gerd Alfons technischer Leiter in Bregenz, seit Herbst 1999 arbeitet er an der "Bohème", die nächste Woche Premiere feiert. Beginnend vom Abbau des alten Bildes kümmert er sich darum, dass ein wohlkoordiniertes Räderwerk von Professionisten reibungslos ineinander greift. Die vorhanglose Seebühne fordert Perfektion: das Publikum sieht alle Szenenwechsel, es gibt Windstärken bis zu 80 Stundenkilometer. Alfons geht kein Risiko ein: "Ab der ersten Strichskizze sind wir dabei. Rechnerisch würde unsere Bühne erst bei 130 bis 140 Stundenkilometern zusammenbrechen. Wir haben ein sehr verlässliches Kernteam. Oft ist binnen Stunden zu sagen, ob etwas finanziell und physikalisch machbar ist."

Kern aus Beton

Regie, Bühne, Dirigent, Sänger, Ausstattung, Licht, Ton, Tischler, Schlosser, Statiker: In einem künstlerischen und einem technischen Team sind etwa 1.800 Menschen beim Festspiel-sommer dabei, 35 bis 40 Firmen beauftragt: Stoffe aus Frankreich, Kostüme aus England und Frankreich, Stahlbau aus der Schweiz und Vorarlberg, die Statik von Bauingenieur Albert Plankel, die Bauleitung vom Feldkirchner Architekturbüro Gottfried Partl. Mitarbeiter Manfred van Daele koordiniert zum dritten Mal Bühnenauf- und Hochbauten von der Fundierung zu den Oberflächen. "Wir richten die Baustelle vom Abbruch bis zum Neuaufbau auf dem nackten Betonkern ein. Zufahrt, Lärm, Kranposition, bewegliche Elemente: Wir sind immer stolz, das termingerecht zu schaffen. Es ist eine Gratwanderung: Es muss technisch klappen, aber darf nicht künstlerisch inakzeptabel sein."

50 bis 70 Millionen Schilling stecken in "La Bohème". Ein Betonkern von 30 mal 24 Meter bildet als fixes Bauwerk das ständige Fundament, er birgt Verstärker, Lautsprecher und Nebenräume im Inneren. Mit 1.000 Kilogramm pro Quadratmeter trägt er das Doppelte einer normalen Indoorbühne. Für eine Seebühnenaufführung reicht das noch nicht. Mimi stirbt hier den traurigsten Liebestod der Opernliteratur auf 40 bis 45 Meter, etwa 400 Holz- und Stahlpiloten tragen die Last, die der Betonkern nicht nehmen kann. Der Hauptspielort, Tisch eins, misst zirka 33 mal 29 Meter. Er ruht als Stahlkonstruktion auf 22 Holzpfählen, die 12 Tonnen auf Druck, zwei Tonnen auf Zug belastet sind. Damit alle alles sehen, ist die Tischplatte 15,8 Prozent geneigt, bis zu 150 Personen tummeln sich auf der rutschfesten Oberfläche.

Europäisches Unikum

Bei leichtem Regen halten zwar die meisten Zuseher durch, bei extremem Schlechtwetter können 1.800 Personen die "Bohème" im Festspielhaus sehen. Der Rest kriegt sein Geld zurück. Für Proben aber hat man eine einzigartige Alternative zum See: die Werkstattbühne Bregenz, die etwa 40 mal 50 Meter misst. "Diese Halle ist ein Unikum in Europa. Sie kann alles. Mit so einem Riesending ist man selten konfrontiert", sagt Architekt Much Untertrifaller. Proben für die Seebühne, Clubbings, Kongresse, Theater finden hier statt. "Die Halle ist beliebig bespielbar. Alles ist beweglich. Wir entwickelten mit verschiedenen Theaterspezialisten und dem Statiker ein eigenes System", schildert er einen intensiven Prozess. Statiker Wolfdietrich Ziesel war kreativ: "Ein herkömmliches Tragwerk war unmöglich. Die Bühnentechnik muss flexibel bleiben, unsere Konstruktion viel Leerraum lassen, große Bereiche ohne konstruktive Einbauten auskommen." Ziesel baute eine Art Tisch, an dessen vier Ecken die Lasten der Konstruktionsebene aus filigranen Stahlträgern hängt. Ein fünf Meter breiter, freier Bereich lässt der Technik Spielraum. An die 100 Tonnen Gewicht trägt die Konstruktion, sie funktioniert einwandfrei: die komplette Seebühnenmannschaft probte hier im simulierten Außenszenario.

"Es geht nicht um den Nachbau der Wirklichkeit, sondern um eine künstlerische Antwort. Die Aufführung darf nie zur Technikshow werden, das Bühnenbild nie den Darsteller erschlagen", sagt Gerd Alfons. Ein Kartenständer mit 36 Karten verwandelt mit einer 120-Grad-Drehung die Dachkammer am See ins mondäne Café Momus. Er wiegt mit Karten 90 Tonnen.

Doch wenn Rudolfo seine kranke Mimi besingt, denkt niemand an technische Daten: "Alles ist aus einem Guss. Wenn die Kellner mit Tablett durch die Karten springen, herrscht opulentes Highlife. In der Mansarde schlottern die Knie. Man spürt menschliche Nähe, Verliebtsein ohne Geld."

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