Noch eine gar nicht so einfache Geschichte

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Mit der "Markus-Version" hat der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy ein ernsthaftes und trauriges, leichtes und schweres, wichtiges und schönes Buch geschrieben.

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Mit der "Markus-Version" hat der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy ein ernsthaftes und trauriges, leichtes und schweres, wichtiges und schönes Buch geschrieben.

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Eine "Einfache Geschichte Komma hundert Seiten" legte Péter Esterházy den deutschsprachigen Lesern im vergangenen Jahr vor, doch so einfach war diese Geschichte dann nicht, sonst wäre sie nicht von Esterházy. Der Autor nannte sie die "Mantel-und-Degen-Version", und man fand darin, was zu einer solchen dazugehört: Haudegen, Liebschaften und politische Ränke, Kutschen, Küchenjungen und Pistolen (siehe FURCHE 19/2015).

Nun ist eine weitere "Einfache Geschichte Komma hundert Seiten" des ungarischen Schriftstellers auf Deutsch zu lesen, die "Markus-Version" - in der deutschen Übersetzung wird aus dem Titel wieder der Untertitel und der Untertitel "Markus-Version" zum Titel. Das schmale, tatsächlich nicht viel mehr als 100 Seiten starke Büchlein ist ein weiteres erstaunliches Werk dieses Autors, ein Kleinod, eine Einladung zu langsamem und genauem Lesen, zur Auseinandersetzung mit Glaube und Zweifel, mit Wahrheit und Schrift, mit Trauer und Verlust.

Knappe Form

Einfach sieht diese Geschichte nun, im Unterschied zur wildwüchsigen Mantel-und-Degen-Version, auf den ersten Blick wirklich aus. Kurze durchnummerierte Kapitel, insgesamt 100, keines davon länger als eine Seite, manche nur ein Satz - wobei sich das 100. Kapitel dreimal wiederholt und beim dritten Mal eine Ergänzung erhält. Auffallend kurze Hauptsätze, meist in Präsens, erinnern an den Stil des Markusevangeliums, des kürzesten und am knappsten erzählten der vier kanonisierten christlichen Evangelien. Ein Kapitel aber bietet eine einzige lange Satzschleife, in dieser wird die Zeit der Kindheit verlassen, stehen wir viele Jahre später mit dem Erzähler am Grab des Vaters und sagt die Mutter am Ende dem Sohn: "Ich weiß, dass du es warst, geh weg, geh weg von hier."

Aber einfach ist der Text nur auf den ersten Blick. Genauer betrachtet sind diese von Heike Flemming großartig übersetzten Sätze alles andere als einfach, reißen sie mitten hinein in existentielle Abgründe. Auch viel Kompositionskunst ist im Spiel, etwa wenn Worte eines Kapitelendes am Beginn des nächsten Kapitels aufgegriffen werden, selbst das Ende der Anmerkungen verweist wieder auf den Beginn.

Will man den Inhalt skizzieren, so könnte man es so tun: Hier erzählt ein Kind von seiner Kindheit, die Eltern wurden mit den zwei Buben als Volksfeinde aus Budapest in ein nordungarisches Dorf zwangsumgesiedelt. Sie wohnen nun auf dem Land, einquartiert bei Bauern, Eltern und Kinder zusammen in einem kleinen Zimmer. Der das Leben suchende, verzweifelte Vater trinkt viel, die Mutter hat ihren ersten Mann durch die Schoa verloren, die christliche Großmutter väterlicherseits spricht von Gott und erzählt die Bibel. Eszter, die jüdische Mutter des ermordeten ersten Mannes der Mutter, bringt sich eines Tages um. Und dann ist da noch der Stiefbruder, Sohn jenes ersten Mannes der Mutter. Dieser Bruder schreibt ständig in sein Heft, Wörter und Sätze sind ihm wichtig - doch leben wird er nicht lange. Dann übernimmt sein Bruder Heft und Stift. Dieser, der Erzähler, bleibt rätselhaft. Ist er taubstumm? Doch eines Tages ruft er das Wort "totsicher". Reden also kann er. Hören offensichtlich auch.

Esterházy verknüpft Zitate von Simone Weil, Imre Kertész und dem Evangelium nach Markus (die er in einem Anhang ironisch anführt) und Erzählebenen so geschickt, dass man manchmal nicht mehr weiß, wer von den beiden Brüdern eigentlich das Heft schreibt. Von Bischof Papias von Hierapolis ist aus dem 2. Jahrhundert nach Christus überliefert, dass der Evangelist Markus Dolmetscher des Petrus gewesen sein und aufgeschrieben haben soll, was er im Gedächtnis behalten habe. Eine Vielheit von Autorschaft finden wir auch hier vor. Die Aufzeichnungen des Bruders gehen über in jene des erzählenden Ichs und womöglich spielt Péter (Petrus) Esterházy auch noch eine Rolle. Auch so kann man also literarisch das Verfassen von Evangelien thematisieren. Angefangen mit dem Überliefern der Heilsgeschichte hat übrigens die Großmutter, sie kann sie wegen ihres Schlaganfalls den Brüdern aber nicht zu Ende, also bis zur Auferstehung, erzählen. Die Version nach Esterházy endet nicht mit dem Ende, sondern dem Beginn des Markusevangeliums und den Sätzen: "Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss." Seine Anmerkungen danach schließen allerdings mit dem Satz: "Das Ende ist der Beginn."

Lektüre mit Nachhall

Nicht nur stilistisch, auch motivisch lassen sich also Anklänge ans Evangelium finden, das Spiel für die Literaturspürhunde unter den Theologen ist hiermit eröffnet. Die Frage "Welcher von uns ist nun der Judas?" ist dabei nur eine mögliche Spur. "Es ist kein Gott", das Hadern mit Gott bzw. sein Ablehnen angesichts der grauenhaften Erfahrungen in der Schoa eine andere.

Péter Esterházy, der im Oktober 2015 bekannt gemacht hat, dass er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist, hat mit der Markus-Version ein ernsthaftes und trauriges, leichtes und schweres, wichtiges und schönes Buch geschrieben, das einmal mehr zeigt, wie sehr es darauf ankommt, wie erzählt wird, ob es dann nach dem Lesen noch einen Nachhall und ein Nachdenken über die Lektüre gibt.

Die Markus-Version

Einfache Geschichte Komma hundert Seiten

Aus dem Ungar. von Heike Flemming. Hanser Berlin 2016 115 S., geb., € 17,40

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