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Digital In Arbeit

LEKTOR UND „GROSSER BRUDER“

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Ein Lektor ist ein vielgeplagter Mann. Er hat — wie man so sagt — eine „verantwortungsvolle“ Stellung in einem Verlag. Man sagt auch, ein Lektor sei ein beneidenswerter Mensch; er hätte ja nichts weiter zu tun — als zu lesen.

Die Arbeit des Lektors ist an keine Bürostunden gebunden. Er macht freilich seinen täglichen Dienst im Verlag wie jeder andere Mitarbeiter, nur, wie gesagt, an Bürostunden ist er nicht gebunden, und das heißt, daß er oft die Sonntage und die Nächte zu Hilfe nehmen muß.

Täglich laufen durchschnittlich fünf umfangreiche Manuskripte bei einem großen Verlag ein, das sind im Monat rund hundertfünfzig. Dichter und Schriftsteller, vor allem solche, die glauben, es zu sein, senden dem Verlag ihre mehr oder minder umfangreichen Manuskripte, sagen wir: einen Roman.

Da liegt das dicke Paket, vierhundertsechzig Schreibmaschinenseiten umfaßt es. Der Lektor ist Kummer gewöhnt und geht „an's Lesen“, nicht um Freude zu haben (vielleicht stellt sie sich später ein, das kann man nicht wissen), sondern um eine Arbeit hinter sich zu bringen, die anstrengend ist. Er liest. Zeile für Zeile, genau, voller Bereitschaft, das „Genie“ zu entdecken. Er liest meistens spät abends oder nachts, wenn andere schlafen.

Seite um Seite liest er, schwankend zwischen Zustimmung und Bedenken, denn die Schriftsteller machen es ihm nicht leicht. Sie haben ihre „Eigenarten“, ja ihre Unarten. Er liest mit gespannter Aufmerksamkeit. Es gibt da viel zu bedenken, vielerlei will beobachtet sein, was den Wert, die Besonderheit eines Werkes ausmacht.

Er ist ein Mann der Leidenschaft, der Hingabe, den nichts erschüttern kann, nichts enttäuschen; denn einmal, das weiß er, einmal entdeckt er einen neuen Dichter, ein neues Buch, das ihn reichlich belohnt für alle Mühe, vor allem für die trostlos tödlichen Stunden, da er den Dilettanten, diesen literarischen Dienstboten, aufsaß, die an seinen Nerven zehrten, den „Halbjungfrauen der Literatur“, denen er in summa seine besten Jahre opfert.

Ja, und nun der „große Bruder“ des Lektors, der Herr Kritiker (!!). Zwei Ausrufungszeichen. Oh, es gab Zeiten, da war ein Kritiker so mächtig, daß Fürsten und Minister vor ihm zitterten.

Ich bin zu einer Zeit in der Literatur groß geworden, wo es noch ein Ereignis war, wenn das neue Buch eines berühmten Dichters erschien. Dann warteten die „Zünftigen“ auf das Urteil des gefürchteten Kritikers.

Der Kritiker also liest „von Berufs wegen“, weil er für die Zeitung das neue Werk kritisieren soll und muß. Er liest, ähnlich wie der Lektor, mit letzter Verantwortung, um festzustellen, ob sein „kleiner Bruder“ gut „vor“-gelesen hat. Ob er recht getan hat, dieses Buch seinem Verleger zur Herausgabe zu empfehlen.

Alles, was der Lektor bei seiner Lektüre erspüren muß, das muß auch der Kritiker nun erfassen. Und dennoch, so meine ich, der „kleine Bruder“ hat ihm die Verantwortung und Arbeit ja bereits abgenommen durch sein Ja-Wort, das diesem Buch erst die Existenz ermöglichte. Es ist schwieriger, aus einem Manuskript Wert und Unwert zu erkennen, als nachher, wenn der Roman schön säuberlich gedruckt und gebunden als Buch vorliegt.

Auch der Kritiker ist ein hingebungsvoller Arbeiter, der nur in auserwählten Stunden „naiver Leser“ sein darf; zumeist aber „im Dienst“, muß er Fronarbeit leisten, ohne nun das Handwerk hinschmeißen zu dürfen.

Er ist so etwas wie „das Gewissen", das darüber wacht, was „gut“ und „schlecht“ ist oder was dazwischen liegt. Keiner kann ihm diese Lesearbeit abnehmen. Er muß sagen, begründen, „kritisieren", damit der „normale" Leser (der ja später der Käufer ist), erfahre, was er nun zu halten habe von dem neuen Buch.

Und siehe: auch der gestrenge Kritiker wird belohnt; denn immer wieder einmal kommt ihm ein Buch unter die Augen, das er lieben kann, also preisen und loben darf!

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