ODYSSEUS HAT KEIN ZUHAUSE MEHR

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DAS ENDLICH AUF DEUTSCH ÜBERSETZTE MEISTERWERK DES SIZILIANERS STEFANO D'ARRIGO ZEIGT, WOZU LITERATUR FÄHIG IST, WENN SIE AN IHRE GRENZEN GEHT.

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DAS ENDLICH AUF DEUTSCH ÜBERSETZTE MEISTERWERK DES SIZILIANERS STEFANO D'ARRIGO ZEIGT, WOZU LITERATUR FÄHIG IST, WENN SIE AN IHRE GRENZEN GEHT.

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Sehr gute und sehr schlechte Romane haben etwas gemeinsam: Beide erkennt man auf den ersten Blick. Mit den einen will man nicht viel zu schaffen haben, und von den anderen ahnt man, dass sie einen durch das Leben begleiten werden. In beiden Fällen bedarf es nicht des Abwägens gelungener gegenüber weniger geglückter Passagen. Über die breite Masse der Literatur lässt sich deshalb so gut reden, weil sich zu jedem zustimmenden Argument ein kritischer Einwand gesellen mag. Manche von diesen Büchern schätzt man außerordentlich, liebt sie vielleicht sogar, doch stets im Bewusstsein, dass sie nicht das Maß aller Dinge sind. Trotzdem brauchen wir sie, weil sie uns bereichern und uns etwas über die Bewusstseins-und Gefühlslage unserer Zeit sagen. Und dann kommt ein Buch, das uns mit einer Wucht daran erinnert, wozu Literatur fähig ist, wenn sie an ihre Grenzen geht. Wer um alles in der Welt ist Stefano D'Arrigo (1919-1992), und warum blieb uns sein großer Roman bislang verborgen? Die Werkliste D'Arrigos ist kurz: ein preisgekrönter Gedichtband ("Sizilianischer Kodex") und zwei Romane, wobei "Horcynus Orca" als sein unerreichtes Meisterwerk gilt. Zwischen 1956 und 1957 schreibt er in rasendem Tempo die erste Fassung von 600 Seiten nieder, Ausarbeitung, Verfeinerung und sprachliche Kleinarbeit nehmen die nächsten zwanzig Jahre und den doppelten Umfang in Anspruch. Als er 1961 das Manuskript abliefert, bekommt er umgehend die Fahnen, die er innerhalb von vierzehn Tagen dem Verlag Mondadori überarbeitet zurückzuschicken verspricht. Daraus werden vierzehn Jahre, die dem Verfasser einen großen Teil seiner Kräfte kosten.

Vierzig Jahre nach seinem Erscheinen liegt der Roman zum ersten Mal auf deutsch vor. Das ist dem besessenen Übersetzer Moshe Kahn zu verdanken, der eine wahre Herkulesarbeit geleistet hat. Völlig unverständlich, dass er dafür nicht den Leipziger Buchpreis für Übersetzung bekommen hat. Der Begriff Herkulesarbeit passt in diesem Zusammenhang schon deshalb gut, weil der Roman mit Anspielungen aus der Mythologie arbeitet und vollkommen zeitgemäße Bezüge daraus ableitet.

Zeitlose Aura

Die eigentliche Geschichte, für die allein dieser monumentale Umfang überhaupt nicht nötig wäre, ereignet sich an fünf Tagen im Oktober 1943, als die Alliierten auf Sizilien gelandet sind. Das war, als der Roman herauskam, für die Öffentlichkeit noch jüngste Vergangenheit. Staatliche Strukturen haben aufgehört zu funktionieren. Der Bootsmann 'Ndrja zieht durch Kalabrien in der Hoffnung, Gelegenheit zur Überfahrt nach Sizilien, seine Heimat, zu bekommen.

D'Arrigo nimmt sich ausgiebig Zeit für die Begegnungen, die der junge Deserteur auf seinem langen Weg macht. Keine dieser Gestalten ist nur repräsentativ für ihre Gegenwart, jede Figur steht in einer Aura, die sie ihrer Zeitgebundenheit enthebt. Sie trägt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sie weist über die eigene Existenz hinaus auf das Drama der Menschheit, gezeichnet von den Folgen des Krieges. Sie sind Leidende und Darbende, Fürchtende und trotzig Hoffende, sie alle stehen unter Zwang und Not, wo immer man hinschaut, tragisch Geschlagene, im Stich gelassen von den Instanzen staatlicher Macht. Wir befinden uns im toten Winkel der Zeit, wo die Zivilisation ihre Wirkung eingebüßt hat und die Menschen zurückgeworfen sind auf das bloße Sein. Ihnen bleiben ihre Geschichten, die sie einem Gegenüber anzuhängen versuchen.

Erfindungsreiche Übersetzung

Um das alles auch sprachlich klar zu machen, bedient sich D'Arrigo weit ausgreifender Sätze, die schwer an einen Punkt kommen, weil sie, einmal in Schwung geraten, alles mitnehmen, was ihnen an Kleinigkeiten unterkommt. Und tatsächlich ist es ja nur eine Frage der Bewertung, was wichtig und was ohne Bedeutung ist. Für D'Arrigo jedenfalls nehmen auch kleine Unscheinbarkeiten des Alltags Beweischarakter an, weil sie Auskunft geben über die Menschen, die mit ihnen umzugehen gewöhnt sind. D'Arrigo-Sätze sind detailsatt und im Original vom sizilianischen Dialekt durchdrungen, der das Werk so lange für Übersetzungen unzugänglich machte.

Moshe Kahn findet erfindungsreiche Entsprechungen dafür oder belässt es beim Jargon. 'Ndrja trifft auf zwei verzweifelte Frauen vom Typus Klageweiber, die das Schicksal eines jungen Mannes beweinen: "Nicht einmal von den Tränen seiner Mutter und seiner Schwester lässt er sich rühren, focu meu." Das ganze Buch ist von sprachlichen Fremdkörpern durchdrungen, die den Leser auf Distanz halten, ihn nie zu nahe heranlassen, sodass die Figuren nicht zu Vertrauten werden können.

Bis der Heimkehrer tatsächlich in Sizilien ankommt, sammelt er eine Unzahl von Geschichten auf, die an ihn im Verlauf der Begegnungen wie an einen Hüter der verlorenen Zeit weitergegeben werden. Die Episoden werden nach und nach in Form eines Stationendramas abgearbeitet. Die einzelnen Begebenheiten stellen sich mit einer Wucht ein, dass an ein Entkommen vor den Schlägen der Gewalt und des Unheils auch für den Leser nicht zu denken ist. Hat es 'Ndrja tatsächlich geschafft, ist gar nichts gut. Er stößt auf eine Welt der Zerstörungen und Verstörungen, mit Rettung ist nicht zu rechnen. Im Krieg kommt jede Ankunft einer Zerstörung aller Erwartungen gleich.

Die sich mit mahlender Bedächtigkeit voranarbeitende Romanwalze kulminiert im Auftauchen eines Mörderwals, zoologische Bezeichnung "Horcynus Orca" - wer denkt jetzt nicht an eine Variation des Moby Dick-Themas? -,mit dem der Tod in einer vom Tod ohnehin heimgesuchten Weltecke noch einmal kräftig ausholt. Das Tier ist kein reales Lebewesen, es steht für Zerstörung, Gewalt und Tod, ist der Gestalt gewordene Schrecken.

Dieser Roman kostet sehr viel Lesezeit, fordert einen stark, zwingt einen zur Langsamkeit -kein Zweifel, ein Buch für ein ganzes Leben!

Horcynus Orca Roman von Stefano D'Arrigo Übers. v. Moshe Kahn S. Fischer 2015 1472 S., geb., € 59,70

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