Christine Lavant - Christine Lavant, 1963 in ihrer Wohnung in St. Stefan im Lavanttal - © Christine Lavant, 1963 in ihrer Wohnung in St. Stefan im Lavanttal. Foto: Ernst Peter Prokop

Wahrnehmung im Hier und Jetzt

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Am 6. Oktober wird zum vierten Mal der Christine Lavant Preis vergeben. Ausgezeichnet wird heuer Angela Krauß: Juror Karl Wagner im Gespräch über die beiden Autorinnen und ihre Literatur.

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Am 6. Oktober wird zum vierten Mal der Christine Lavant Preis vergeben. Ausgezeichnet wird heuer Angela Krauß: Juror Karl Wagner im Gespräch über die beiden Autorinnen und ihre Literatur.

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Angela Krauß, 1950 in Chemnitz geboren, begann ihren literarischen Weg 1984 mit „Das Vergnügen“, ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Nun erhält sie den Christine Lavant Preis. Was verbindet Krauß mit Lavant und was macht ihre Texte so besonders? Der Literaturwissenschafter Karl Wagner im Gespräch.

DIE FURCHE: Es gibt zur Zeit viele Bemühungen, Christine Lavant in Erinnerung zu halten und sie auch in Schulen zu bringen. Worin sehen Sie die Bedeutung dieser Autorin für die Gegenwart?
Karl Wagner: Ich habe das Gefühl, dass mit der neuen Werkausgabe schon etwas passiert. Sie verkauft sich extrem gut, vor allem die Einzelwerke sind für den Schulunterricht sehr gut einsetzbar, wie „Das Wechselbälgchen“ oder die „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“, wo ich große Parallelen sehe zu Ingeborg Bachmanns Büchnerpreisrede von 1964: „Ein Ort für Zufälle“. Da ist dieser Schreibduktus der Aufzeichnung, des Notizenhaften, eine Schreibregel, die auch in der Gegenwart sehr en vogue ist. Mir ist nicht alles gleich zugänglich, das geht auch nicht, in vier Bänden kann nicht alles supertoll sein. Aber man sieht das sehr ernsthafte Bemühen, von der Stelle zu kommen und für die Verhältnisse, aus denen sie stammt und die eigentlich sprachlos sind, eine Sprache zu finden und nicht einfach Sozialreportage zu machen.

DIE FURCHE: Die Gedichte sind vermutlich schwerer zu vermitteln, weil Lyrik ja heute wenig Stellenwert hat.
Wagner: Ja, wobei, wie Sie richtig andeuten, das nicht ihre Schuld ist. Es ist ein Gattungsproblem, aber ich finde es bezeichnend, dass Thomas Bernhard, der wenig für andere Autoren gemacht hat, allein für Christine Lavant 1987 diese Auswahl an Gedichten für die Bibliothek Suhrkamp besorgt hat, wohl mit der Einsicht, dass sie besser sind als seine.

DIE FURCHE: Dieses religiöse Ringen in Lavants Texten: Ist das heute vermittelbar?
Wagner: Obwohl es Tendenzen gibt, die stark von Dogmatisierung geprägt sind, hat sich der Umgang, die Auseinandersetzung mit Religion liberalisiert. Das Verhältnis von Literatur und Religion wird nicht mehr so an die kurze Leine genommen, wie es damals der Fall war, was die Leute auch eher verstört hat, weil es den Spielraum einengt. Wenn man Literatur und Religion als zwei eigenständige Formen des „Wissens“ versteht, dann finde ich die Konfiguration auch heute sehr interessant.

DIE FURCHE: Nun bekommt Angela Krauß einen Preis, der nach Christine Lavant benannt ist. Nach welchen Kriterien geht die Jury bei ihrer Entscheidung vor, wie sind Sie auf Angela Krauß gekommen?
Wagner: Der Preis hat laut Statuten den Auftrag, ein Werk auszuzeichnen, das im literarischen Betrieb schon Aufmerksamkeit gefunden hat. Es ist kein Preis für Debütanten, aber auch keine Würdigung eines Gesamtwerks. Es soll, wie die Jury annimmt, wie das Werk von Christine Lavant in formaler und inhaltlicher Hinsicht an diesen gesellschaftlichen Anliegen arbeiten und diese auf eine neu wahrgenommene Weise zur Darstellung bringen. Und das, scheint mir, ist bei Angela Krauß auf herausragende Weise der Fall, weil ihre Prosa sehr vom Hier und Jetzt bestimmt ist, also eine Wahrnehmungsprosa ist. Es gibt bei ihr auch Affinitäten zu einem anderen Kärntner, nämlich zu Peter Handke und dessen Prinzip „wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist“. Diese soziale und formale Neugier, die sich da verschränkt, das scheint mir ein guter Grund zu sein, Angela Krauß diesen Preis zu geben.

Dass sie eher Lyrik und lyrische Prosa und keinen Roman geschrieben hat, das verbindet Krauß auch mit Christine Lavant.

Krauß - Am 6. Oktober wird zum vierten Mal der Christine Lavant Preis vergeben. Ausgezeichnet wird heuer Angela Krauß - © Foto: Suhrkamp (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)
© Foto: Suhrkamp (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Am 6. Oktober wird zum vierten Mal der Christine Lavant Preis vergeben. Ausgezeichnet wird heuer Angela Krauß

DIE FURCHE: Angela Krauß scheint eine Literatur zu schreiben, die die Literaturkritik ein bisschen ins Schwimmen bringt. Das ist meist ein Zeichen, dass es interessant ist, in den Text zu schauen, weil da offensichtlich etwas passiert, was nicht so einfach zu benennen ist. Es geht nicht einfach nur um einen Plot, man tut sich schwer, die Sprache zu benennen, viele weisen darauf hin, wenn es Prosa ist, ist es doch auch Lyrik ...
Wagner: Ich glaube, es hat sehr viel mit der Gattung zu tun. Dass sie eher Lyrik und lyrische Prosa und keinen Roman geschrieben hat, das verbindet sie auch mit Christine Lavant. In dem Augenblick, wo für die Literaturkritik oder auch für die Literaturwissenschaft der nacherzählbare Plot ausfällt, ist es viel schwieriger, darüber etwas Haltbares zu sagen. Kein Roman heißt aber nicht, dass sie gegen das Erzählen ist. Sowohl Lyrik als auch kürzere Prosa, also die Erzählung, sind kommerziell jedenfalls nicht lukrativ. Wenn man diese Gattung wählt, hat man auch eine Entscheidung getroffen, dass die Bücher nicht in meterhohen Stapeln vor der Buchhandlung anzutreffen sind. Dieser freiwillige Verzicht auf kommerziellen Erfolg ist an und für sich auch etwas Auszeichnungswürdiges, weil es Literatur neue Aspekte abgewinnt, die nicht immer einfach nur zur Erfolgsformel gerinnen. Was bei Krauß noch dazukommt: Sie wurde 1950 in Chemnitz geboren und stand natürlich auch unter der westlichen Wahrnehmung, was typische DDR-Literatur sei. Schon mit ihrem Erstling und einem anderen sehr frühen Text, mit dem sie 1988 den Bachmannpreis bekommen hat, „Der Dienst“ (übrigens ein ganz außergewöhnlicher Text, es wäre wichtig, dass der öfter in der Schule besprochen wird, auch der Umfang würde gut passen), findet sich eine ganz wesentliche Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der DDR und auch eine Verabschiedung des sogenannten Bitterfelder Weges in der Literatur. Ihre Kombination von Erzählung und Reflexion, diese Durchdringung von Erzählung und Reflexion hält Abstand zu allen Klischees, die man von einer DDR-Autorin ihres Jahrgangs erwarten durfte. Und diese Darstellung von Bitterfeld in ihrem ersten Text – da fällt einmal der Name –, die Art und Weise, wie diese Landschaft präsent gemacht wird, finde ich einzigartig. Es ist fast ein Stifter’scher Anfang mit der Geologie des Gebietes und diesen tektonischen Verwerfungen. Es ist, könnte man sagen, eine Analogie zu einem Modell von „geschichteter Geschichte“, die sie schreibt. Diese Einsprengsel des Vergangenen im Jetzt, der Einschluss des Futurischen in der Gegenwart: Das macht ihre Stärke aus. Und das finde ich auch in der Prosa von Christine Lavant. „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ ist eine ähnliche Durchdringung von Zeitschichten und historischen Epochen.

DIE FURCHE: In einer Kritik wird über einen Text von Angela Krauß gerätselt, was das denn sei: ein Roman, ein Gebet oder eine Reflexion. Ich betone hier das Gebet, weil die Autorin ja in einem völlig anderen Kontext wie die Kärntnerin Christine Lavant aufgewachsen ist, weit entfernt von jener katholisch geprägten Kultur. Finden sich aber nicht auch bei Angela Krauß in einem sehr weiten Sinn Spuren von Sehnsucht?
Wagner: Auf jeden Fall. Ich glaube, es gibt auch darin eine Ähnlichkeit zu Handke, in dessen Texten diese Sehnsucht auch vorhanden ist. Sie wird nur nicht mit einer gegebenen Doktrin beantwortet, sondern eher verstanden als ein Aufruf, diese Sehnsucht zu artikulieren. Je größer die Enttäuschung durch irdische Antworten ist und angesichts der Monstrosität der Normalität ist Religion vielleicht, im weitesten Sinn verstanden, auch ein probates Widerlager für Kritik an diesen Zuständen. Eine Kritik, die nicht mit der nächsten Wahl wieder umgedreht wird, sondern die eine lange Dauer und Nachhaltigkeit hat. So würde ich das beantworten. Das mag vielleicht ein bisschen paradox klingen, weil ich vorher gesagt habe, dass die Autorin sehr auf das Hier und Jetzt und das Wahrnehmen jetzt aus ist. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei ihr. Ein Text fängt damit an: Ein Paar liegt auf der Wiese und nur die Zehen des Geliebten machen die Grenzen des Beobachtungsfeldes aus. Aber dieses Liegen im Hier und Jetzt passt auch zum Reflexiven, denn ein Großteil von ihrem Werk zeigt die Notwendigkeit der Vita contemplativa, wie sie Hannah Arendt beschrieben hat. Ein Text von Krauß heißt „Wie weiter“. Nicht einfach weitermachen in Serien, ohne zu unterbrechen, sondern wahrnehmen, innehalten und dann weiterschauen. In dieser Konfiguration kommen die Vorzüge der Vita contemplativa zum Ausdruck und auch die Beschränkungen der Welt des Handelns, das natürlich nicht suspendiert wird. Das Handeln soll nur auf einer reflektierteren Basis erfolgen.

Nicht einfach weitermachen in Serien, ohne zu unterbrechen, sondern wahrnehmen, innehalten und dann weiterschauen.

Wagner - Juror Karl Wagner im Gespräch über die beiden Autorinnen und ihre Literatur.<br />
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  - © Foto: Hannah Neuhuber
© Foto: Hannah Neuhuber

Juror Karl Wagner im Gespräch über die beiden Autorinnen und ihre Literatur.  

DIE FURCHE: Damit könnte Krauß ja, um es technisch auszudrücken, eine wichtige Bremse in unsere Gegenwart schleusen.
Wagner: Das ist ein guter Ausdruck, den Sie verwenden. Sie verwendet selber in ihren „Frankfurter Poetikvorlesungen“ von 2004 diesen Ausdruck, sagt, dass Fühlen, Staunen und Lieben solche Bremsen sind. Nicht Beschleunigung, sondern das Nachdenklichwerden und nachdenklich Weitergehen als eine andere Geschwindigkeit, die andere Qualitäten freisetzt und voraussetzt.

DIE FURCHE: Es wird heute oft von der Literatur verlangt – und es gibt sogar Manifeste dazu –, dass sie sich gesellschaftspolitisch artikuliert. Wie stehen Sie zu dieser Forderung an Literatur?
Wagner: Manifest ist eine Gattung und der Weg von einem Manifest zu einem gelungenen Text ist sehr weit. Einen gesellschaftspolitischen Auftrag kann man sich wünschen, man kann ihn ausrufen, aber das ergibt noch keine Literatur von gesellschaftspolitischer Relevanz. Wenn Literatur in Gesellschaft eingreift, dann meiner Meinung nach nur auf eine langfristige Weise, indem sie Verhaltensweisen ändert und nicht einfach Spruchbandsätze schreibt.

DIE FURCHE: Das wäre der Ansatz bei Angela Krauß, bei deren Texten man die politische Bedeutung dieser Art von Wahrnehmung auf den ersten Blick vielleicht gar nicht merkt?
Wagner: Ja, genau. Wahrnehmungsprosa steht und fällt damit, dass man etwas zum Vorschein bringt, sichtbar macht, was bislang nicht gesehen wurde. Und das ist für eine gesellschaftliche Veränderung das Um und Auf. Ein anderer, ein neuer Blick auf das, was vermeintlich schon jeder kennt.

DIE FURCHE: In ihrer Poetikvorlesung sagt Krauß: „Immer, wenn mir ein lebendiger Mensch gegenübertritt, vergesse ich alles, was ich gelernt habe.“ Findet sich das nicht auch als Spur in ihren Texten?
Wagner: Man könnte sagen, dass es ein wunderbarer Ausdruck dafür ist, dass die Wahrnehmung nicht nach einem Programm abläuft, sondern immer für Überraschung gut ist. Nur so erscheinen diese noch nicht entdeckten Wunder der Welt. Andererseits ist es ein großes Risiko, dass man angesichts eines lebendigen Gegenübers wieder bei Null anfängt. Die Liebe ist auch ein wichtiges Thema in ihren Texten.

DIE FURCHE: Auch zwei wichtige Ereignisse sind wichtige Themen ...
Wagner: Ja, es gibt zwei wichtige Existenzpunkte in ihrem Leben. Der eine ist der Selbstmord ihres Vaters 1968, ein Thema, das in immer anderer Beleuchtung wiederkehrt. Es gibt keine Gewähr, diesen Schmerz ein für alle Mal weggeschrieben zu haben, sondern er taucht an unvermuteten Stellen immer wieder auf. Das ist verschränkt mit dem zweiten Existenzpunkt und das ist die Hoffnung von ʼ89 und der Zusammenbruch der DDR. Das ist auch etwas, wo der Boden ähnlich wie der Bergbauboden von Bitterfeld einbricht. Da gibt es ein gutes Landschaftsbild: Über hundert Jahre stand da eine Fabrik und eines Tages stülpt sich diese Fabrik um, knickt ein und liegt dann wie ein verkehrtes gekentertes Schiff in der Landschaft.

DIE FURCHE: Jemand hat einmal gesagt, Novalis hätte Angela Krauß die blaue Blume gegeben. Würden Sie sagen, dass sie eine romantische Schriftstellerin ist?
Wagner: Das ist eine schwierige Frage, weil Romantik auch so ein Label ist, das eher verkleistert als sichtbar macht. Wenn Sie Novalis nennen, dann würde ich sagen, dass ihre Wahrnehmung Ähnlichkeiten hat mit der Radikalität der Frühromantik. Viele von den Romantikern sind ja sehr sklerotisch geworden, nur die Engländer sind entweder im Meer ertrunken oder an Tuberkulose gestorben und daher forever young. Aber Novalis ist so eine unterirdische Spur für diese Art von Wahrnehmung. Das könnte man auch am Beispiel von Kafka zeigen oder von Musil, die genau diese Wahrnehmungsschärfe, auch diese offene Schreibweise an Novalis bewundert haben und sich von dort inspirieren haben lassen. In diesem Sinne ist sie eine Romantikerin wie die Früh romantiker in Deutschland.

Fakt

Christine Lavant Preis an Angela Krauß

„Angela Kraußʼ poetische Spurensuche betreibt eine Archäologie der Zukunft und ver stärkt die Vorfreude auf die Welt.“ So begründet die Jury ihre Entscheidung, Angela Krauß mit dem diesjährigen Christine Lavant Preis auszuzeichnen. Dieser wird von der Christine Lavant Gesellschaft vergeben und der Autorin am 6. Oktober, 11 Uhr, im Rahmen einer Matinee im Großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses überreicht. Der mit 15.000 Euro dotierte Preis würdigt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die einen hohen ästhetischen Anspruch mit humaner Haltung und gesellschaftskritischem Blick vereinen. Am 10. November, 13 Uhr, sprechen Karl Wagner und Brigitte Schwens-Harrant mit der Autorin auf der BuchWien.

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