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Brodelnder Vulkan

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In Prag brodelt es wieder. Der zweimalige Sieg der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft über die Sowjetrussen hat genügt, um neue Unruhen im Land ausbrechen zu lassen. Dieser zweimalige Sieg der Eishockeymannschaft eines kleinen Landes über die russische Mannschaft, die bisher Weltmeister war, erschien der Bevölkerung wie ein Symbol. Ein Symbol, daß auch ein kleines Land mit Erfolg sich einem stärkeren widersetzen kann. Revanchegelüste mischten sich sicherlich in diese Gefühle. Man hatte die Russen wenigstens auf diesem einen Gebiet schlagen können, wenn man schon ohnmächtig ihren Panzern gegenüber war.

Die Tschechoslowakei hatte immer ein sehr berühmtes Eishockeyteam. Und alle ihre Siege in der Welt waren, insbesondere für die Prager, immer der Anlaß zu einem Volksfest. Wenn irgendwo in der Welt dieses Team antrat, wurde sein Kampf am Wenzelsplaitz durch Lautsprecher übertragen. Hunderte und Tausende umsäumten diese Lautsprecher und brachen in ein Triumphgeheul aus, wenn das einheimische Team einen Treffer erzielte. Siegte das Team überhaupt, dann war dies immer ein Anlaß, ad hoc ein nationales Pest am Wenzelsplatz abzuhalten. Die Feiern der Prager Bevölkerung am Wenzelsplatz aus Anlaß des Sieges der eigenen Eishockeymannschaft über die Russen sind somit eigentlich kein Novum. Sie erhielten nur einen politischen Hintergrund durch die Ereignisse des letzten August und waren ein willkommenes Ventil, den Volkszorm abzulassen. Aber die Russen sind keine Engländer, die eine solche Demonstration in den von ihnen beherrschten Gebieten ruhig hätten ablaufen lassen und sich nur bemüht hätten, kein Verkehrschaos entstehen zu lassen und vielleicht noch geachtet hätten, daß alle sanitären Vorschriften peinlichst eingehalten werden.

Russen sind keine Engländer, die sich durch ein Fasten Mahatma Gandhis beeindrucken ließen und die auch durch die Selbstverbrennung eines Jan Palach erschüttert gewesen wären und daraus Konsequenzen gezogen hätten. Das ist eben der Unsterschiied zwischen Engländern und Russen: Während Engländer von solchen Einzelhandlungen zutiefst beeindruckt waren, sich durch Massendemonstrationen sich aber nicht erschüttern ließen, gehen Russen über Einzeldemonstrationen kaltblütig hinweg — was zählt schon ein Menschenleben —, reagieren aber allergisch, sobald sie vermuten, daß eine Demonstration in einen Aufstand gegen das eigene Regime ausbrechen könnte. Das war unter dem weißen Zaren so und ist unter dem roten Zaren so und wird wohl Immer so bleiben. Und Rußland ist momentan allergisch auf die kleinste Demonstration an sednen Westgrenzen, da es doch seit langem der Auseinandersetzung mit China entgegenstarrt und unbedingt Ruhe im Rücken haben will. Wie sehr dieses China-Trauma Rußland beunruhigt, kann jedermann in den Adenauer-Memoiren nachlesen. Hier berichtet der deutsche Bundeskanzler von seinem berühmten Besuch in Moskau, bei dem ihm Chruschtschow sagte: „Stellen Sie sich vor, China hat jetzt schon über 600 Millionen Menschen. Jedes Jahr kommen noch 12 Millionen hinzu. Alles Leute, die von einer Hand voller Reis leben. Was soll — und dabei habe er gemäß den Adenauer-Memoiren die Hände zusammengeschlagen—, was soll daraus werden?“ Adenauer soll sich gemäß seinen Memoiren gedacht haben: „Lieber Freund, du wirst eines Tages zufrieden sein, wenn du im Westen keine Truppen mehr zu unterhalten brauchst.“ Darauf Chruschtschow, als ob er die Gedanken seines Gastes lesen könnte: „Helfen Sie uns, mit. China fertig zu werden.“ Rußlands großes Problem ist heute, mit diesem China „fertig zu werden“. Und natürlich wäre es ihm am liebsten, wenn es in Europa keine Truppen stationieren müßte. Aber jede kleine Demonstration bringt es zu der Uberzeugunig, daß es eben doch seine Truppen in die gefährdeten Gebiete senden muß, und so reagiert Rußland unnütz schärfer, als es den Gegebenheiten entspricht An diesen Prager Demonstraitionen der letzten Tage werden wieder zwei Tragödien offenbar: Die Bussen verstehen die Tschechen nicht zu behandeln, und die Tschechen verstehen die Russen nichlt. Die Tschechen sind ein durch und durch westeuropäisches Volk, und es wird ihnen nie gelingen, sich gänzlich dem östlichen Kulturkreis einzufügen. Und die Russen können nicht verstehen, daß die Tschechen ein abendländisches Volk sind und nach ihrer Fasson selig werden möchten. Sie wollen sie unbedingt auf ihre Moskauer Tour zwingen. Sie sind keine Engländer, die innerhalb ihres Commonwealth den Ländern und Völkern immer eine große Selbständigkeit und nationale Freiheit ließen. Und so wird es immer Unruhen in diesem Raum geben, und sie würden sich erst mildern, wenn die Russen anfangen würden, englisch zu denken, aber dies ist hoffnungslos. Eher werden die Tschechen begreifen, daß Demonstrationen sinnlos sind, da sie nur den Gegner reizen und keine positiven Ergebnisse erzielen. Dies ist die eine Tragödie, und die zweite: Neuerlich wird sichtbar, wie schlecht und falsch die Ordnung von 1918 war. Hätte man dalmals nicht den tschechoslowakischen Staat ins Leben gerufen, sondern den böhmischen Staat, dem man ganz Schlesien zurückgegeben hätte, dann hätte man nicht nur Deutschland geschwächt, sondern ihm auch ajle Argumente für einen Revanchismus genommen, denn man hätte dann richtig behaupten können, daß man nur einen Raub wieder gutgemacht hat. Und man hätte aus dem böhmischen Hexenkessel den Nationalismus verbannt, denn in diesem Staat wären beide Nationen gleich stark gewesen und hätten sich nicht majo-risieren lassen können. Und das Sle-phansreich hätte man umwandeln können in ein Reich gleichberechtigter Nationen, wodurch die Madjaren in ihre zuständigen Schranken gewiesen worden wären. So aber züchtete man durch die Ordnung von 1918 einen deutschen und einen madjarischen Revisionismus, der schließlich Buropa in Flammen aufgehen ließ und Rußland die Chance gab, seine Grenzen weit nach Westen zu verschieben und durch seine slowakischen Freunde ä la Husak die Tschechoslowakei auch von innen her unter Druck zu setzen. So erzeugen die Fehler der Vergangenheit eine Tragödie ohne Ende.

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