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Dichtung und kaum eine Wahrheit

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Die Schrittrollen vom Toten Meer. Von Edmund Wilson. Winkler-Verlag, München

Mittels eines gelben Streifens, der um den Schutzumschlag des Buches gefügt ist, versucht der Verlag, die Kauflust des Publikums anzuspornen. Heute sind durch Presse und Rundfunk die neuen Texte aus den Höhlen des Toten Meeres in jedermanns Mund, und somit ist auch in breiteren Kreisen das Verlangen erwacht, ausführlicher über den neuen Fund informiert zu werden. Diesen Wunsch suchte sich der Verlag nutzbar zu machen und preist durch die gelbe „Bauchbinde“ das Buch als den „ersten zusammenfassenden Bericht über die aufsehenerregenden biblischen Funde am Toten Meer und ihre wissenschaftliche Untersuchung“ an. Jemand, der mit diesem Fund schon mehrere Jahre beschäftigt ist, muß sich fragen, ob nur Unkenntnis für den Text dieses Streifens verantwortlich ist. Weiß denn der Verlag nicht, daß bisher schon elf Bücher und zahlreiche zusammenfassende Artikel in ernsten Zeitschriften erschienen sind? Die Verfasser der Bücher in französischer Sprache heißen: A. Du-pont-Sommer, der in Wilsons Buch auch mehrfach erwähnt wird, G. Vermes, A. Michel und A. Vincent: zwei ausgezeichnete Bücher in englischer Sprache verfaßten der Engländer H. H. Rowley und der Amerikaner M. Burrows; in hebräischer Sprache erschienen Bücher von E. S u-kenik und A. M. Hab ermann; und in deutscher Sprache drei gute Bücher von Paul Kahle „Die hebräischen Handschriften aus der Höhle“, Stuttgart 1951, Hans Bardtke „Die hebräischen Handschriften vom Toten Meer“, Berlin 1953, und Georg M o 1 i n „Die Kinder des Lichtes“, Wien und München 1954. Noch weniger als dieses Buch die erste zusammenfassende Darstellung ist, ist es wissenschaftlich. Hier erhebt sich die Frage: Hat der für den gelben Werbestreifen verantwortliche Lektor das Buch wirklich aufmerksam gelesen? Auf den Seiten 101 und 112 bezeichnet sich der Verfasser selbst als einen Laien, auf Seite 91 gibt er zu, einem hebräischen Vortrag nicht folgen zu können und, wie besonders aus Seite 69 f. hervorzugehen scheint, kann er überhaupt nicht ausreichend Hebräisch, um Texte zu verwerten, die „den Fachleuten, auf die er sich hier stützt, bisher nur auszugsweise bekannt gewesen sind“. Wie kommt nun angesichts dieser Selbstzeugnisse des Verfassers der Verlag zu der horrenden Mitteilung, daß dieses Buch die „erste wissenschaftliche Untersuchung“ sein soll? Man hat fast den Eindruck, als läge ihm daran, in der Oeffentlichkeit die Tendenz des Buches zu verbreiten, die auf Seite 118 f. deutlich ausgesprochen ist: „Für die kulturellen und menschlichen Beziehungen — also für die Zivilisation — müßte es einen ungeheuren Vorteil bedeuten, wenn endlich die Entstehung des Christentums einfach als Episode in der Geschichte der Menschheit allgemein verstanden würde, statt als Dogma und göttliche Offenbarung verbreitet zu werden.“

Es ist unendlich schwer, in diesem Buch Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten, und man müßte in der Kritik Seite für Seite behandeln, um das wissenschaftlich Biegbare vom Hypothetischen und von der reinen Phantasie des Autors abzuheben.

Ich kann hier nur einige Details herausgreifen, um zu beweisen, daß das Buch ein seltsames Mischmasch von Unkenntnis, Unwissenschaftlichkeit, Sensationslust und antikirchlicher Einstellung ist.

Seite 71 schreibt Wilson, daß General Prof. Jigal Jadin „bestimmte dem Feind zugeschriebene Waffen“ für römische Kurzschwerter halte. Hätte Wilson das hebräisch geschriebene Buch Jadins, das er erwähnt, oder wenigstens die schon ein Jahr zuvor edierte Kriegsrolle gelesen, so hätte er sofort bemerkt, daß von feindlichen Waffen hier gar nicht die Rede ist, sondern von den eigenen Waffen der Söhne des Lichtes, die Jadin eben für römische Kurzschwerter hält. S. 103 behauptet Wilson: „Nirgends bin ich auf eine Andeutung gestoßen, Johannes (der Täufer) wäre mit der Sekte uneins gewesen.“ Obwohl in der Tat zwischen dem Milieu des Täufers und dem der Sekte zahlreiche Aehnlichkeiten bestehen, ist doch in den neugefundenen Texten nur von häufig wiederkehrenden rituellen Bädern die Rede, aber nicht von einer anscheinend einmaligen Sündenvergebungstaufe johannäischer Praxis. S. 94 gräbt Wilson neuerlich eine inzwischen widerlegte These Dupont-Sommers aus, nach der der Lehrer der Rechtschaffenheit „der Auserwählte und Messias Gottes, der Messias-Erlöser der Welt sei... der verurteilt und hingerichtet wurde ... das Gericht über Jerusalem sprach ... und am Ende der Zeiten der oberste Richter sein wird“. Hier wurde die christliche Messiaslehre mit der einen Hand in die Texte hineingelegt, um sie mit der anderen wieder herauszuholen. In den Texten ist nirgends von einem Auserwählten, sondern von den Auserwählten (Mehrzahl!) die Rede, worunter die Gemeindemitglieder selbst gemeint sind. Nirgends steht etwas von einem Erlöser, sondern nur von einer Erlösung. Nirgends wird in den bisher edierten Texten der Lehre der Rechtschaffenheit Messias genannt, obwohl er zweifellos als der Prophet des messianischen Zeitalters galt. Es ist im Gegenteil von zwei Messiassen die Rede, einem Priester und einem Laien. Nirgends heißt es zumindest in den bisher veröffentlichten Texten, daß der Lehrer der Rechtschaffenheit einen Märtyrertod erlitten hätte, wenn dies auch immerhin möglich wäre. Es heißt zwar, daß er am Ende der Zeiten wiederkommen werde (anscheinend als Prophet der Endzeit, so wie auch Jesus von manchen seiner Zeitgenossen als der wiedererstandene Johannes der Täufer angesehen wurde), nirgends ist aber auch nur die leiseste Andeutung, daß er zum Gericht wiederkomme.

Wenn Wilson auf S. 111 die Frage stellt, ob sich „außer einem weltlichen Gelehrten überhaupt jemand unbefangen mit dem Problem der Entdeckungen vom Toten Meer auseinanderzusetzen vermag“, so gesteht er damit seine eigene Tendenz ein. Gleichzeitig gibt er aber auch die Antwort auf die Frage, waium er selbst sein Buch derart unwissenschaftlich geschrieben hat. Der Leser kann vor diesem Buch nicht nachdrücklich genug gewarnt werden. Jedes der drei oben aufgezählten Bücher in deutscher Sprache kann ihm bessere Dienste leisten.

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