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Ein Staat macht sich frei

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In ganz Argentinien wurde am 9. Juli das 135. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung gefeiert. Es scheint mir eine besondere Aufgabe, vor den Lesern der „Furche“ die eigenartige und zu wenig bekannte Geschichte des argentinischen Staates, die mit seiner Geburtsstunde an jenem 9. Juli des 19. Jahrhunderts beginnt und jetzt in einem großen Er-neuerungs- und Befreiungswerk sich fortsetzt, aufzuschlagen.

Das Vorspiel der Unabhängigkeitserklärung Argentiniens ging diesem Akt nur um wenige Jahrzehnte voraus.

Die Vorgeschichte der Unabhängigkeit Argentiniens reicht kaum ein paar Jahrzehnte vor ihre Erklärung zurück. Zwei Momente trugen dazu bei, den „criollo“, den in Amerika geborenen und ansässigen Weißen, seiner Lethargie zu entreißen, in die ihn die strenge Luft der Kolonialherrschaft versetzt hatte, und sein Schicksal mit eigener Hand zu schmieden. Vorerst die Französische Revolution und die Emanzipierung der Nordamerikanischen Staaten, deren Ideen trotz strengster Zensur in die spanischen Kolonien eindrangen, und dann die zwei englischen Besetzungen (1806 und 1807) der Stadt Buenos Aires sowie deren Rückeroberung. Die englische Besatzung mit ihren liberalen Anschauungen brach zum ersten Male die strenge Ordnung der spanischen Klassengesellschaft. Noch folgenschwerer war aber die Rückeroberung Buenos Aires', die ausschließlich von der kriollischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Das Bewußtsein, der spanischen Krone durch eigene Kraft eine Provinz gerettet zu haben, gab dieser Bevölkerung Selbstbewußtsein, verschärfte ihre Ansprüche an den Vizekönig und führte schließlich zu der Revolution vom 25. Mai 1810.

In den schweren Kämpfen, die folgten, den Siegen von Tucuman, 1812, Salta, 1813, San Lorenzo, 1813, Siegen, die mit Niederlagen bis 1813 wechselten, war sich niemand darüber im klaren, welche Staatsform die .Vereinten Provinzen“,

wie sich nun die von den Revolutionären regierten Provinzen nannten, annehmen sollten.

In diese verworrene Lage greift am 6. Juli 1816 der Kongreß zu Tucuman ein, um mit seiner Unabhängigkeitserklärung der praktisch neugeschaffenen, aber noch immer nicht konsolidierten Lage einen Namen zu geben. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte, daß die Männer, die diesen Kongreß bildeten, sich des wichtigen Schrittes, den sie unternahmen, nicht bewußt waren. Dem äußeren Scheine nach homogen, da die meisten Kongreßteilnehmer Geistliche und Juristen waren, vertraten die Abgeordneten der verschiedenen Provinzen die verschiedensten und entgegengesetztesten staatsrechtlichen Ideen: Föderalisten und Zentralisten, Republikaner und Monarchisten.

Doch, als der Kongreß endlich am 9. Juli gefragt wurde, ob er wolle, „daß die Provinzen der Union eine freie und von den spanischen Königen unabhängige Nation werden“, erhoben sich wie

elektrisiert alle Abgeordneten mit einem spontanen „Jal“, üm zu erklären, „daß es einstimmiger Wille der Vereinten Provinzen ist, die Bande, die sie gewaltsam mit den Königen Spaniens binden, zu zerreißen, ihre Rechte zurückzuerlan-gen, die hohe Eigenschaft einer freien und unabhängigen Nation zu erhalten und de facto wie auch de jure sich die von der Gerechtigkeit gewünschte Form zu geben“.

Der Schritt war getan und, wenn auch die innere Konsolidierung erst viel später kommen sollte, ward an diesem Tag ein neuer Staat geboren. Sechs Tage später wurde die bereits vom General Belgrano in seinen zahlreichen Kämpfen verwendete Flagge — hellblau-weißhellblau — als Staatsflagge dekretiert. Unter dieser Flagge sollte dann die berühmte Andenexpedition des Generals Jose de San Martin und die Befreiung ganz Südamerikas stattfinden. Bei den Regierungen der Großmächte kam man bald um die Anerkennung des neuen freien Staates ein.

Eine zweite Fremdwirtschaft wird zerschlagen

Außer diesem Jubiläum beging das argentinische Volk am 9. Juli auch ein anderes Gedenken, das seiner allerjüng-sten Geschichte angehört: In demselben Saal in San Miguel de Tucuman, in dem die Abgeordneten der Vereinten Provinzen vor 131 Jahren die Unabhängigkeit und somit die Existenz eines neuen Staates proklamierten, fand am 9. Juli 1 9 47 die sogenannte „Erklärung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Argentiniens“ statt. „Vertreter der regierenden und arbeitenden Kräfte der Nation“ drückten feierlich, wie ihre Vorgänger vor 131 Jahren politisch, ihren Willen aus, „wirtschaftlich unabhängig zu sein“. Wenn man bei diesen Worten bleibt und die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht kennt, könnte man annehmen, daß diese Unabhängigkeit Autarkie bedeutet. Es wird

aber weiter der Wunsch ausgedrückt, „die Bande des im Lande festsitzenden Kapitalismus zu zerreißen und das Recht sowie auch die Führung über die nationalen wirtschaftlichen Quellen zurückzugewinnen“, damit als höheres Ziel „die Produkte des argentinischen Arbeiters auf dem Gebiet des internationalen Handels eine Ver-handlungs- und kommerzielle Basis haben“. Es handelt sich also nicht um einen wirtschaftlichen Chauvinismus, sondern um die Erreichung der Gleichheit in den internationalen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Bedeutung dieser Beschlüsse wird dadurch verständlich, daß noch vor einigen Jahren die Schlüssel des argentinischen Wirtschafts? lebens: die Eisenbahnen, die Schiffahrt, der Flugverkehr, das Telephon- und

Telegraphenwesen, die Versicherung und Energie- und Brennstoffwirtschaft, sich fast ausschließlich in fremden, hauptsächlich englischen Händen befanden. Argentinien war dadurch in seiner Verhandlungsmöglichkeit sehr gehemmt. Zudem floß der Ertrag der fremden Gesellschaften zur Gänze dem Ausland zu. Die Schiffahrt war in den Händen des Verhandlungspartners sogar ein gefährliches Element, da dieser die Möglichkeit hatte, durch sie für die argentinischen Agrar-produkte niedrige, für die ausländischen Einfuhrartikel jedoch hohe Preise zu erzwingen. Wurden solche Preise für die Einfuhrwaren nicht angenommen, blieben die eigenen Landeserzeugnisse von der Ausfuhr ausgesperrt. Dazu mußte noch

die Fracht an einer fremden Gesellschaft versichert werden. Es kam zum Beispiel während des letzten Krieges zur seltsamen Situation, daß kriegnotwendige Artikel nicht verfrachtet werden durften, weil sie bei einer argentinischen, nicht ausländischen Gesellschaft rückversichert waren, überdies belastete eine hohe öffentliche Verschuldung an das Ausland Argentinien.

Die wirtschaftliche Unabhängigkeit bedeutet also die Beseitigung dieser Lage mit dem Ziele, Argentinien die Gleichheit mit seinen Verhandlungspartnern zu geben und die Früchte der argentinischen Wirtschaft dem eigenen Lande zu erhalten. Diesem Ziel strebte man in den letzten vier Jahren planmäßig zu.

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