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Europäisches Atom?

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Man sollte glauben, daß die Atomforschung und die Nutzung neuer Energiequellen die Grenzen überspringt und die Grundtatsachen der Kernforschung der Menschheit schlechthin vertraut sind. Diese Binsenwahrheit scheint in der Praxis außer Kurs gesetzt zu sein. Die beiden Weltmächte hüten sorgsam ihre Geheimnisse. Wenn schon die Superweitmächte aus Verteidi-gungs- und Prestigegründen nationale Atomindustrien aufbauen und die Kernforschung nach egoistischen Gesichtspunkten ordnen, mag dies um so verwunderlicher für Europa sein. Die Klein-und Mittelstaaten unseres Kontinents sind kaum noch in der Lage, die entsprechenden Kapitalien zur Verfügung zu stellen und Forschungsstätten von den Dimensionen der USA oder der Sowjetunion zu gründen.

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Man sollte glauben, daß die Atomforschung und die Nutzung neuer Energiequellen die Grenzen überspringt und die Grundtatsachen der Kernforschung der Menschheit schlechthin vertraut sind. Diese Binsenwahrheit scheint in der Praxis außer Kurs gesetzt zu sein. Die beiden Weltmächte hüten sorgsam ihre Geheimnisse. Wenn schon die Superweitmächte aus Verteidi-gungs- und Prestigegründen nationale Atomindustrien aufbauen und die Kernforschung nach egoistischen Gesichtspunkten ordnen, mag dies um so verwunderlicher für Europa sein. Die Klein-und Mittelstaaten unseres Kontinents sind kaum noch in der Lage, die entsprechenden Kapitalien zur Verfügung zu stellen und Forschungsstätten von den Dimensionen der USA oder der Sowjetunion zu gründen.

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Bei der Atomindustrie ist es genauso wie bei den Weltraumsatelliten. Wenn ein industriell strukturierter Raum, wie es Westeuropa ist, den Anschluß an die Forschung verliert, wird der technologische Unterschied zu den mächtigen Alliierten immer deutlicher. Es wird dann über kurz oder lang ein Abhängigkeitsverhältnis erzeugt, das mit politischen Folgen verbunden ist. Man bedenke, daß bereits 90 Prozent der europäischen Elektronenindustrie direkt oder indirekt von amerikanischen Firmen kontrolliert wird. Es wäre daher selbstverständlich, wenn die drei Industrienationen Frankreich, Bundesrepublik und England ihre Forschungen zusammenlegten, um zumindest eine gemeinsame Atomindustrie zu friedlichen Zwecken zu besitzen. In der letzten Europakonferenz von Den Haag am 1. Dezember 1969 wurde von den EWG-Staaten auf Initiative Frankreichs dieses Problem erörtert. Die Forschungsminister der sechs Staaten führten die Diskussion kurze Zeit später in Brüssel weiter. In erster Linie wollte man die europäische Organisation Euratom retten, die sich seit der Fusion der drei Gemeinschaften als Stiefkind fühlte.

Für das Jahr 1970 wird für die nukleare Ausrüstung der französischen Armee ein Drittel des Wehrbudgets, zirka 9 Milliarden Franc, ausgegeben. Für diese gewaltige Summe handelt sich Frankreich drei Megatonnen ein, während eine einzige amerikanische interkontinentale Rakete zwei Megatonnen transportiert. Trotzdem muß die technische Leistung der französischen Industrie gewürdigt werden. Am Ende des Jahres 1969 konnte sogar das zweite mit Atomkraft betriebene Unterseeboot von Stapel laufen.

„Für friedliche Zwecke“

Ist die Errichtung der französischen autonomen Atomstreitmacht problematisch und wird sie sich im Jahre 1971 als überaltert erweisen, so wird die Nutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke in der V. Republik auf noch größere Schwierigkeiten stoßen. Auch auf diesem Gebiet versuchte Frankreich eigene Wege zu beschreiten, mußte aber die Konstruktion von Natur-Uranreaktoren zugunsten des von den Amerikanern entwickelten Systems von Reaktormodellen mit angereichertem Uran aufgeben. Die Verantwortung für diesen schwerwiegenden Schritt hat

bezeichnenderweise Präsident Pom-pidou persönlich übernommen und liquidierte damit einen weiteren Traum des gaullistischen Regimes. Davon sind die nationalen französischen Forschungsstellen, soweit sie der Atomenergiekommission unterstehen, betroffen. 2600 hochwertige Ingenieure und Techniker werden bis Ende 1971 entlassen. Die friedliche Verwendung der Atomenergie ist auf das engste mit dem Bestehen von Elektrogroßkon-zernen verbunden, die in der Lage sind, finanziell“ und technisch die Forschung voranzutreiben. Frankreich besitzt nun keine solchen Firmen in der Größenordnung von Philips, Siemens oder AEG. Darum wurde von der Regierung angeregt, auch im nationalen Rahmen einen Konzern internationalen Ausmaßes zu schaffen. Es wurde die Fusion Jeumont-Schneider mit Alsthom-CGT geplant. Wegen dieses Zusammenschlusses tobte seit Wochen hinter den Kulissen ein heftiger Kampf, in dem sich deutsche mit amerikanischen Interessen überschnitten. 61 Prozent des Aktienkapitals von Jeumont-Schneider gehören einem belgischen Baron, Edouard Jean Empain, der kürzlich ein Kaufangebot des amerikanischen Konzerns Westinghouse Electric erhielt.

Westinghouse taucht auf

Die amerikanische Firma präsentierte gleichzeitig das Projekt eines gewaltigen euro-amerikanischen Elektrokonzerns, der Frankreich, Belgien, Italien und Spanien umfassen sollte. Westinghouse plante in Frankreich die Errichtung eines zentralen Laboratoriums, um dort die speziellen europäischen Probleme, 7U studieren. Der neue europäische Westinghouse-Konzern sollte 50.000 Personen Arbeit geben und einen jährlichen Umsatz von 1 Milliarde

Dollar erzielen. Die Westinghouse European Holding Company mit dem Sitz in Amsterdam wäre von einem der fähigsten französischen Technokraten, dem ehemaligen Generaldirektor der Staatseisenbahnen, Louis Armand, präsidiert worden. Er verfügt in Frankreich und Europa über ein außerordentliches Prestige in der Welt der Banken und der Industrie. Er führte wochenlang Gespräche auf höchster Ebene mit den Pariser Zentralstellen. Westinghouse wünschte in Frankreich auch die Firma Merlin & Gerin zu erwerben sowie ähnliche Gesellschaften in Italien, Belgien und gedachte, die europäische Holding mit einem Grundkapital von 50 Millionen Dollar auszustatten.

Frankreich prüft Siemens-Angebot

■Rig^.-.jrgnSJgJJEh6 Regierimg zeigte sich über den Vorschlag der Ameri-

fianpr keineswegs entzückt, da sie einen Ausverkauf der nationalen Industrie befürchtet, lehnte das Angebot von Westinghouse ab und

sucht eine rein europäische Lösung. Diese Willenskundgebung mag durch ein Angebot von Siemens mitbestimmt worden sein. Die Deutschen boten in konkreter Weise eine Zusammenarbeit zwischen der französischen und deutschen Privatindustrie mit gemeinsamen Beteiligungen auf dem Sektor der Produktion elektrischen Großmaterials an. Siemens und AEG würden mit den Franzosen (und hier wieder mit Jeumont-Schneider und Alsthom-CGT) einen Konzern bilden, der amerikanischen Vorstellungen entspricht. Die Regierung prüft gegenwärtig sehr eingehend die Vorschläge, welche die Emissäre von Siemens unterbreiteten.

Gelingt es, Euratom wieder flottzumachen, und besteht der politische Wille in Paris wie in Bonn, an Stelle eines französischen oder amerikanischen Atoms ein europäisches zu besitzen, so wird die Gründung eines europäischen Elektrogroßkonzerns ermöglicht.

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