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Das Jahrhundertprojekt

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Die Chinareise des Staatspräsidenten Pompidou war für Frankreich weltpolitisch gesehen ein beachtlicher Erfolg. Soweit es die bilateralen Beziehungen betraf, mußte eine Enttäuschung in Kauf genommen werden.

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Die Chinareise des Staatspräsidenten Pompidou war für Frankreich weltpolitisch gesehen ein beachtlicher Erfolg. Soweit es die bilateralen Beziehungen betraf, mußte eine Enttäuschung in Kauf genommen werden.

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Die Chinesen zeigten sich nicht bereit, ihre vor einiger Zeit abgegebenen Optionen für das französischenglische Überschallpassagierflugzeug Concorde zu bestätigen. Nachdem auch amerikanische und japanische Gesellschaften auf den Ankauf der Concorde verzichteten, ist dieser Wundervogel zumindest vorläufig eine kommerzielle Pleite geworden. Die französisch-britische Zusammenarbeit muß daher einen schmerzlichen Rückschlag verzeichnen. Um so bemerkenswerter ist daher der Wille der Londoner und Pariser Regierungen, im September 1973 offiziell verlautbart, das gewaltigste Projekt des Jahrhunderts, die Errichtung eines Tunnels unter dem Ärmelkanal, zu realisieren. Obwohl bis 1975 nur beschränkte Vorarbeiten geleistet werden sollen, und zwar mit einem Kostenaufwand von 325 Millionen Francs, ist doch die Verwirklichung des Projekts kaum noch aufzuhalten.

Die historischen Voraussetzungen sind der Öffentlichkeit fast unbekannt. Die wechselvolle Geschichte des Werkes ist bisher nicht geschrieben worden. Die französische Eisenbahn Verwaltung hat uns jedoch bereitwillig die Unterlagen zur Verfügung gestellt, welche es gestatten, die Historie einer technischen Vision zu verfolgen. Wir beabsichtigen daher nicht, die gegenwärtige technische und finanzielle Situation des Tunnelbaues zu untersuchen, sondern richten unsere Blicke ausschließlich auf die geschichtlichen Aspekte.

Die Geschichte des Tunnelprojekts hängt eng mit den politischen Beziehungen Großbritanniens zum Kontinent zusammen. Mit Recht konnte einer der besten Kenner dieses Problems, der Chefingenieur der französischen Eisenbahnen, Monsieur Gonon, feststellen: „Das Schicksal der Tunnelkonstruktion unter dem Ärmelkanal folgt im wesentlichen den auf- und absteigenden französisch-englischen Relationen. Verbesserten sich diese, war die öffentliche Meinung beider Staaten aufgeschlossen. Verdüsterte sich der diplomatische Horizont, verschwanden alle diesbezüglichen Hoffnungen und Pläne und wurden zwischen Aktendeckeln begraben.“

Am Anfang des technischen Abenteuers stand Napoleon. 1802 legte ihm der unbekannte Mineningenieur Mathieu den Plan vor, unter dem Meer zwischen England und Frankreich einen Tunnel zu bauen. In dem

Bauwerk sollten Kutschen den regelmäßigen Verkehr zwischen der französischen Küste und der englischen Insel sichern. Der erste Konsul war von dieser Idee begeistert und hoffte nach dem Frieden von Amiens (27. März 1802) auf ein vorzügliches Verhältnis zu England. Der Schlachtenlenker mochte auch mit dem Gedanken gespielt haben, zu gegebener Zeit seine Garderegimenter durch den Tunnel nach England marschieren zu lassen. Die technischen Voraussetzungen hierfür fehlten jedoch. Immerhin hat Mathieu schon damals eine Tunnellinie fixiert, die im wesentlichen auch für die Gegenwart Gültigkeit beansprucht.

Die Briten allerdings bewiesen keinerlei Enthusiasmus und ignorierten die Vorschläge Mathieus. Erst 1833 untersuchte der Franzose und Ingenieur Beautemps-Beaupre die geologischen Bedingungen des Tunnelbaues und studierte eingehend die Meeresströmungen im Ärmelkanal.

Wiederum war es ein französischer Ingenieur, der zwischen 1834 und 1866 den Großteil seiner Arbeiten auf eine Verbesserung der Personen- und Warentransporte zwischen England und Frankreich ausrichtete, Thome de Gamond erarbeitete sechs Entwürfe, die dem Bau von Tunnels oder Brücken über den beziehungsweise unter dem Ärmelkanal gewidmet waren. Seine geologischen Untersuchungen — er selbst betätigte sich jahrelang als Taucher — wurden vom englischen Lord Hawkshow bestätigt. Beide gelangten zu gleichen Schlüssen: ein Tunnel zwischen Cap Gris-Nez und Folkstone sei am ehesten zu verwirklichen. Auf der Weltausstellung von 1867 präsentierte Thome de Gamond die Ergebnisse seiner mühevollen Recherchen. Inzwischen setzten erste tastende Gespräche zwischen der englischen und französischen Regierung ein, welche der Krieg 1870/71 unterbrach.

Die Techniker schwiegen, aber die Finanziers schnupperten ein großes Geschäft. 1872 gründeten englische Bankiers die Studiengesellschaft „Channel Tunnel Company“.

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigten sich ausschließlich britische und französische Ingenieure mit den technischen Aspekten. Die Autoren solcher Studien gelangten, voneinander unabhängig, zum gleichen Konzept: nur ein Eisenbahntunnel sei zu vertreten und finanziell rentabel. Auf offizieller Ebene eröffneten die französischen und britischen Eisenbahnen erst 1919 einen engeren Kontakt und schlössen sich der Meinung ihrer Experten an. Als erste zeigte die Regierung Macdonald ein gesteigertes Interesse für diesen Plan, mußte aber die negative Haltung des britischen Empire-Generalstabs berücksichtigen, der sich vehement gegen den Bau eines Tunnels aussprach, Der 1924 bis 1929 aus dem politischen Leben ausgeschaltete Winstori Churchill suchte ein neues Feld füi seine überschäumende Aktivität unc entdeckte zufällig das Kanalprojekt Er wurde zu dessen energischen-Verfechter. Die Regierung publizierte in einem ,31aubuch“ von: Jahre 1929 ein günstiges Urteil unc bekannte sich zu den bisherigen finanziellen und technischen Vorarbeiten. Sie unterbreitete dem Unterhaus sogar einen Gesetzesvorschlag, aber die Kammer lehnte unter dem Einfluß der britischer Militärs, mit 179 gegen 172 Stimmer das Kanalprojekt ab. Zum letztenmal vor dem Zweiten Weltkrieg zog der französische Ingenieur Basdevant die Unterlagen aus den verstaubten Archiven und plädierte für die Konstruktion einer unterseeischen Autostraße, welche genau dieselbe Linie einhielt, die Thome de Gamond vorgezeichnet hatte. Der französische Abgeordnete Boucher beschäftigte das Pariser Parlament ebenfalls mit einem Gesetzesentwurf, den der gleiche Volksvertreter nach dem Krieg wieder aufnahm. 1947 bildeten das französische und das englische Parlament aus den eigenen Reihen Studiengruppen, während die interessierten Regierungen Distanz hielten und jeder Initiative auswichen.

1960 präsentierte die neue französische Studiengesellschaft GETM ihrer Regierung die letzten Resultate der technischen und geologischen Forschungen.

Im selben Jahr erprobten die französischen Eisenbahnen zwischen Fontainebleau und Paris Waggons, die den Transport der Autos im Kanaltunnel durchführen sollen. Diese Versuchsreihen verliefen durchaus zufriedenstellend. Nach bisherigen Erkenntnissen liegt das Interesse des Tunnelbaues in der reibungslosen Beförderung moderner Verkehrsmittel und Container zwischen den britischen Inseln und dem Festland. 1965 setzten umfangreiche geologische Studien ein. Gleichzeitig verpflichteten sich die betroffenen Regierungen feierlich, den Eisenbahntunnel als die einzig mögliche Variante anzuerkennen.

1968/69 gruben die französischenglischen Studiengruppen neuerlich Versuchstunnels und bewunderten die technischen Leistungen ihrer Vorfahren. Diese Expertisen wurden von der britischen und der französischen Regierung bestellt und von den nationalen Eisenbahngesell-schaften finanziert.

Durch die Tunnelrealisierung dürfte in Westeuropa, im nordfranzösisch-belgischen Raum mit Ausstrahlungen bis zur Ruhr, ein neues und gewaltiges Industriezentrum entstehen, das große soziologische und wirtschaftliche Änderungen in den betroffenen Regionen herbeiführen muß.

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