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Im Geiste Abraham Lincolns

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Im Sommer 1958 folgte ich einer Einladung der Universität von Arizona, um einen Kongreß über die Industrialisierungsmöglichkeiten dieses Staates einzuleiten. Bürgermeister aller Städte, das Staatsoberhaupt und eine Menge Journalisten waren zugegen und gaben mir, vor meiner Einführung, einen freundlichen Empfang.

Einer der Zeitungsleute, John Riddick von „Tuscon Daily Citizen", bot meiner Frau und mir gütigst an, uns am nächsten Tag an die mexikanische Grenze zu chauffieren. Es war ein Sonntag, und ich konnte einen Telephonanruf, der anscheinend von Washington am frühen Morgen kam, nicht mehr beantworten, bevor wir uns auf den Weg machten.

Während wir durch die Wüste fuhren, erzählte mir Hefr Riddick, ein gebürtiger Virginier, von seinem Studium an der Columbia- Universität von New York, und ich unterbrach eine interessante Konversation mit der Bemerkung, ob ich wohl irgendwo hier ein Telephon finden könnte, um den Anruf von Washington zu erwidern Riddick erinnerte sich eines Texaners, der als Cowboy vor Jahren in diese Gegend eingewandert war und jetzt eine Ranch und sogar ein Telephon besaß. Sein Name war Kingsley, und so hieß denn auch seine Station mitten in der Wüste.

Wir bogen von der Landstraße ab und fanden den Rancher unter seinem überbreitrandigen „Five-gallon“-Hut. Tabak kauend. Während er mit Riddick trank, ging ich zum Telephon und erfuhr in Kürze, daß man mich von höchster Stelle zum Architekten des Lincoln-Gedächtnis- museums auf dem Schlachtfeld von Gettysburg gewählt hatte, dem Heiligtum der amerikanischen Nation, ein paar hundert Schritte von dem Platz, wo Abraham Lincoln seine berühmte Rede auf die Gefallenen des Bürgerkrieges gehalten hatte-, -, - —K ,. . .. .

2 . ‘

Ich war überwältigt von diesem Telephongespräch und wandte mich glückstrahlend den zwei Trinkern zu, legte den Arm um Riddick und sagte: „Was sagen Sie! Washington hat mich telephonisch beauftragt, das Lincoln- Gedächtnismuseum zu entwerfen. Hier bin ich — ein Wiener von Los Angeles, der inmitten Arizonas das amerikanische Heiligtum in Gettysburg am anderen Ende des Kontinents bauen soll!

Ich erwartete, daß Riddick und vielleicht auch Kingsley mich auf beide Wangen küssen würden. Aber der „Daily-Citizen“-Mann sah mich ernst von Kopf bis Fuß an und brummte langsam: „Wollen Sie sagen, daß wir nun Steuergelder ausgeben werden, um die Niederlage der Konföderierten, der Südstaaten, in Erinnerung zu rufen?“ Zuerst dachte ich, er mache Spaß. Aber er meinte es ernst. Plötzlich fiel mir ein, daß er ja ein gebürtiger Virginier war. Ich hatte natürlich gehört, daß die Leute vom Süden noch immer den Bürgerkrieg auskämpften, der für sie nie zum Ende gekommen war. Aber hier hatte ich ja keinen weißbärtigen Obersten aus alten Tagen vor mir, sondern einen glattrasierten jungen Mann, der sein Columbia-Universitäts- diplom von New York in der Tasche trug. „Die Niederlage der Konföderierten.“ Sie hatten mir nichts dergleichen von Washington telephoniert. Wovon i c h gehört hatte oder glaubte gehört zu haben, war eine Baugruppe zum Gedächtnis Abraham Lincolns. Ich hatte keine Idee, daß soviel psychologisches Dynamit in dem Projekt steckte und dachte von Lincoln als „a safe subject“ und einen verehrten Namen in seinem weiten Land von heute. Aber Herr Riddick war mitten drinnen in historischen Erinnerungen. Wenn man schon jemandes in Gettysburg gedenken wolle, dessen man sich erinnern sollte, so sei es das militärische Genie und der noble Charakter Robert E. Lees, des Generals und Oberkommandanten des Südens: ein Stern am strategischen Himmel, dessen Armee so vernichtendes Leid erfuhr. Riddick packte schweren, aber begeisterten Herzens all das aus, was er in seiner südstaatlichen Volksschule gelernt hatte. Nur für Lee sollte das Gedächtnisfeuer unterhalten werden, wenn schon ein Erinnerungsbau aufginge. Es wurde mir urplötzlich klar, daß vielleicht Millionen von Südstaatlern so fühlen mochten. Ich blickte auf Herrn

Kingsley. Er kaute ruhig seinen Tabak, und als Texaner schien er sich offenbar neutral zu fühlen. Verwundert sah er auf Riddicks blitzende Augen, hörte das Zähneknirschen des Besiegten. Ich war von diesem Leid, von diesem Schmerz, der nach hundert Jahren brannte, erschüttert und betrübt. Nichts als Löwenmut und militärischer Heroismus sollte im Gedächtnis bleiben. Ich legte meinen Arm um Riddick und sagte: „Steigen wir in den Wagen und fahren wir weiter. “

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Wir rollten durch die friedliche Wüste, und ich versuchte meinen verärgerten Chauffeur zu beruhigen. In meinem Herzen dachte ich, daß die Attacke, die von den konföderierten Soldaten an jenem heißen Julinachmittag 1863 unternommen und hügelauf im Artilleriefeuer zusammengebrochen war, eigentlich weder ein strategisches Glanzstück noch eine schöne Erinnerung sei. Aber ich enthielt mich jeder Aeüßerung.

Ich sagte: „Ich kenne den Süden. Ich bin viel im Süden gereist, und ich war sogar Hauptsprecher bei einem Kongreß der Golfstaaten in Biloxi, einem Steinwurf weit von der letzten Residenz des Revolutionspräsidenten Davis Jef- ferson. Hören wir ein wenig auf, von Heroen zu reden. Ich will für meinen Teil, schweren Herzens, glauben, daß unter anderem auch etwas sehr Kostbares für die Vereinigten Staaten verlorenging, als General Sherman seine Taktik der verbrannten Erde anwandte und eine Zivilisation zertrampelt wurde. Mich sollte das eigentlich wenig berühren. Ich bin weit weg, in Wien, geboren. Aber das heißt, daß ich ,von einem Platz herstamme, der einst die Hauptstadt eines Weltreiches war . Wissen Sie, Wiener sind darum Kosmopoliten, mit Erinnerung an Schäden und Ungerechtigkeiten um den Erdball herum, aber auch mit einer Urbanität, die Einsicht, Verständnis, Akklimatisation und Assimilation gestattet.’ Nun, ich glaube, die Leute vom alten Süden hatten selbst eine bemerkenswerte Kraft, Menschen für sich zu gewinnen, Fremde zu assimilieren, sogar Wilde, die in die Sklaverei verkauft wurden und so unter den denkbar miserabelsten Umständen einwanderten. Als ich sechs Jahre alt war, las mir meine Mutter aus einem Bilderbuch eine Geschichte vor, es war ,Onkel Toms Hütte’. Ich erinnerte mich, daß es darin unter den Weißen des Südens gute und schlechte Menschen gab. Vor ein paar Monaten fuhr ich durch Colorado und landete abends in einem Motel. Da sah ich vor dem Einschlafen ein Buch liegen, öffnete es und erkannte die Originalausgabe der weltbekannten Geschichte. Ich wollte sehen, wie gut ich sie nach sechzig Jahren in Erinnerung habe und las die erste Seite: ,Ein Plantagenbesitzer, Herr Selby, war in finanzieller Bedrängnis. Ein Teil seiner Sklaven mußte verkauft werden, und er versucht einem Sklavenhändler seine Schwarzen anzupreisen. Besonders spricht er von einem feinen, treuen Mann, den sie alle Onkel Tom nennen. Ein verläßlicher, harter Arbeiter, fleißig und loyal, der schon ein guter Christ ist, obgleich er erst vor drei Jahren aus dem Busch kam.“ An diesem Punkt blieb ich erschüttert im Lesen stehen. Der schwarze Onkel Tom verschmolz für mich mit einem freundlichen farbigen Schaffner der .Pennsylvania Railroad’. Und hier sah ich urplötzlich, es war ein Wilder aus dem Busch, vor nur drei Jahren aus Afrika auf einen Sklavenmarkt geschleppt. Aber er war schon ein guter Christ, ein guter Einwohner der Südstaaten; er hatte Herzen gewonnen und hatte sich unter den schwersten Verhältnissen irgendwie an die neue Heimat gewöhnt. Millionen Neger wurden Einheimische auf einem neuen Kontinent. Plötzlich sah ich dieses Wunder der Assimilation, das der Süden irgendwie vollzog, die Kraft der Assimilation des ,Vieux Carré’ in New Orleans, der Pflanzer am Mississippi. Jeder, der dieses südliche Land und die Reste seiner alten Atmosphäre und Architektur sieht, erahnt und erfühlt seine Fähigkeit der Anziehung und Angleichung von Seelen. Das gibt es in Detroit für die Neger nicht, obwohl sie auch da als hoffnungsfrohe, freie Menschen eingewandert sind. Assimilationsmöglichkeit und kulturelle Anziehungskraft ist mysteriös und nicht leicht nur ökonomisch erklärbar. Sie kann sogar über die Härten der Sklaverei triumphieren. Ja, Herr Riddick, wir haben irgend etwas im grausamen Bürgerkrieg verloren, was wir gerade jetzt in den USA brauchen könnten; nämlich die Sympathie der Fremden, anderswo Aufgewachsenen, zu gewinnen. Wir versuchen, eine ganze freie Welt zu lenken, kultivierte und primitive Menschen von anderwärts ins Einverständnis zu bringen. Haben wir die nötige Urbanität, das .savoir fair’?

Wissen Sie, wie die ändern uns Amerikaner sehet)? Genau mit deav’Augen von’Südstaatlern, diè Yankees vor sich haben! ,fWir sind für sie die kulturlosen Händler, die die Füße auf den Schreibtisch legen. Sie wissen nichts von den vielen fein besaiteten, wohlgebildeten Amerikanern, die alle Achtung und Beachtung verdienen. Als Nation hätten wir den Süden und seine lebensvollen, guten Manieren in uns, in unsere Städte aufnehmen sollen. Gar manches, das in unserem .Fortschritt’ verlorenging, hätte die USA um wertvolle Facetten bereichert, wäre der alte Süden nicht nach dem Bürgerkrieg versunken. Für die Fremden wäre dann Amerika nicht nur die technische Großmacht gewesen, sondern auch ein Kulturland. Aber ich bin ja selbst ein Fremder und müßte eigentlich schweigen.“

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Herr Riddick sah vom Steuerrad auf und sagte langsam: „Ja, Sie mögen ein Fremder sein, aber auf keinen Fall im bösen Sinn ein Yankee. Wenn irgendwer, so sind Sie es, der die Ge- dächtnisgruppe in Gettysburg bauen sollte.“

Da fuhr ich fort: „Ich würde die Ausstellungsreihe des Museums mit jener alten Daguer- reotypie enden lassen, wo eine große Menschenmenge auf dem Schlachtfeld von Gettysburg der berühmtesten Rede Lincolns zuhört, der Photograph aber Lincoln selbst winzig und nur wie zufällig auf seine Platte bannte. Riesig vergrößert, sollte dieses Bild den Text haben: ,Wo ist der Prophet?“

Die Museumsfolge sollte ihren Höhepunkt in dem schwach, aber -feierlich erleuchteten Rostrum der prophetischen Stimme finden. Es steht in seiner Bedeutsamkeit vor den Zuhörerreihen des Auditoriums, aber auch vor dem Freiluftversammlungsraum, wo sich viele Tausende, wie an jenem Tag vor hundert Jahren, auf einer baum- und felsumstandenen Wiesenhalde zusammenfinden können. Es ist ja der .Parkdienst der USA“, für den wir bauen. Wir sollten jedes Jahr einen wirklich großen Staatsmann, wo immer er sich auf der Erde finden läßt, einladen, daß er in lapidarer Kürze, wie Lincoln in seiner 100-Sekunden-Rede, die Ideale der Menschheit zusammenfaßt, die von der Erde nicht schwinden müssen. , Shall not perish from the earth’, ist der große Schlußklang von Lincolns Rede. Die Zuhörer werden während dieser kurzen Zeitspanne in der Landschaft stehen wie vor einem Sanktuarium alter Zeit. Den Menschen aller Nationen werden diese kurzen, festlichen Zusammenkünfte gelten. Sie werden gefunkt und ferngesehen. Die große Einheit wird wichtig und notwendig auf diesem durch blitzschnellen Verkehr geschrumpften Globus. 0

Dieses Anliegen der Einheit und Einigkeit wird vor uns bleiben für Generationen und für Jahrhunderte. Lincoln war kein Redner des Sieges, kein Triumphator über Niedergeschmet- ‘teihe.’ -Er war-ein gütiger Prophet, und das Echo Seiner großen Rede klingt fort in die Gegenwart und Zukunft.

So sieht der Architekt das Programm des ihm anvertrauten Auftrags."

Herr Riddick sah mich an, nickte und fuhr weiter durch die Wüste.

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