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Saure Reaktion auf dolce vita

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Der italienische Film liegt im Kreuzfeuer der Kritik. Er wird gelobt und getadelt — nicht selten gelobt wegen seines Erfindungsreichtums, seiner oft künstlerische Höhen erreichenden Gestaltung, seines „veristischen“ Gehalts, der an bewährte Traditionen anknüpfe — getadelt wegen des Absinkens vieler Werke in frivolen Lebensgenuß, in dem flachen Publikumsgeschmack allzu willig entgegenkommende, fast hemmungslose Sittenlosigkeit, die nur einem Ziel zu dienen scheint: der materiellen Erfolgssicherung.

Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß sich die Polemik in der Öffentlichkeit vor vier Monaten am, wegen seiner Länge und seines Massenaufwandes kolossal zu nennenden Filmwerk „La dolce vita“ entzündete, die nicht nur in jähem Hin und Her die besten Federn der Filmkritik im In- und Ausland in fieberhafte Bewegung setzte, sondern auch die öffentliche Meinung in nie dagewesenem Maße auf den Plan rief. Die „Stimme des Volkes“ scheint mobilisiert zu sein — und dieses Massenpublikum des Kinobetriebes, dem erst jetzt und noch mehr in nächster Zukunft der genannte Film zu erschwinglichen Preisen zugänglich wird, ist in zwei Lager gespalten, wobei das ihm feindliche Lager die Übermacht gewonnen hat.

Eine Art Generalabrechnung mit der italienischen Filmproduktion der letzten Jahre und ihrem künstlerischen Wert ist im Gange, die nicht zugunsten der zweiten, etwa 1956 anhebenden Aufschwungsperiode der Nachkriegszeit ausgefallen ist. Nachdem sich hier der bedeutende künstlerische Talente offenbarende und dem italienischen Lebenszuschnitt seit Jahrzehnten angemessene neorealistische Film, der besonders im Ausland Triumphe feierte, überlebt hatte, mußten, im Wettbewerb auch mit dem besonders in Italien quantitativ und auch qualitativ jäh anwachsenden Fernsehen, dem mehr und mehr verwöhnten Publikumsgeschmack Konzessionen gemacht -werden, die aber im Film zumeist den bequemeren Weg der das Künstlerische vernachlässigenden Thematik einschlugen. Zügellosigkeit, ja Sittenverfall wurden, im Handlungsablauf nur notdürftig vom Firnis moralischer Entrüstung überdeckt, beliebte, in immer neuen Variationen wiederkehrende Sujets. Beschönigend wurden sie gleichsam zu sinnfälligen Dokumenten des Zeitgeistes emporgesteigert, die zu Gewissensprüfung und Besserung anspornen sollen und deshalb ihre erzieherische Wirkung nicht verfehlen dürften I *

Schließlich wurde es den Berufenen zuviel. Das noch nicht lange bestehende Ministerium für Schauspiel, Touristik und Sport, an dessen Spitze der christlich-demokratische Senator T u p i n i steht, welches noch in jüngster Vergangenheit wegen verschiedener anstößiger, dennoch von der Zensur genehmigter Filmwerke im Parlament zur Rede gestellt wurde, läutete vernehmlich Sturm. Dies geschah in einem in der Presse veröffentlichten, sehr offenherzigen Schreiben Tupinis an den Präsidenten der ANICA, Monako, der die Produzenten, Autoren und Schauspieler des Films angehören. Darin wird die Unmoral gewisser Erzeugnisse der Kinematographie beklagt und in Zukunft entsprechende Maßnahmen angedroht.

Auf diesen ungewöhnlichen Schritt hagelte es Proteste aller Beteiligten, besonders der angeblich ständig dem Verbot ausgesetzten Produzenten, der Autoren, der Schauspieler, der Kritiker usw., wobei sich die sogenannte „Nationale Gemeinschaft der Filmautoren“ dazu verstieg, in einem Telegramm an den Ministerpräsidenten Tambroni die Entlassung des Ministers Tupini aus seinem Amt zu fordern. Gleichzeitig wurde — und dies mit gutem Recht! — der seit vielen Jahren von allen Interessenten beantragte Erlaß eines neuen, den Zeitverhältnissen angepaßten Gesetzes über die Zensur verlangt, das das veraltete, noch heute geltende Gesetz aus dem Jahre 1923 ablösen soll. Es stammt also aus den Anfängen der faschistischen Periode, die sich in der Reglementierung aller menschlichen Beziehungen gefiel, und die deshalb nicht nur Einfluß auf jede Filmgestaltung nahm, sondern auch, vermöge einengender Kontrolle und jederzeit drohenden Verbots, die wirtschaftliche Existenz aller Beteiligten gefährdete. Diese staatliche, wenn scharf gehandhabt, geradezu über das Schicksal der Filmindustrie entscheidende Einmischung wird im demokratischen Italien von heute als unerträglich, ja als kunstfeindlich empfunden. Daher die scharfe Reaktion der Betroffenen; daher der erneute, in verstärkter Tonart erhobene Ruf nach einem wahrhaft demokratischen Gesetz!

In diesen letzten Tagen, da in der Deputiertenkammer u. a. der Etat für die schönen Künste, worunter besonders breit das Filmwesen ausgiebig erörtert wurde, erwies sich dann, daß der gegen die heutige Filmproduktion vom Minister Tupini geführte Schlag wohlberechnet war. Denn nach langer, zum Teil hitziger Debatte, an der sich überwiegend christlich-demokratische und kommunistische Redner beteiligten, zog der Minister das Facit. Er wies nach, daß die Vorzensur der Regierung seit vielen Jahren nur in zwei Fällen Verbote ausgesprochen, also im Hinblick auf die von Anfang 195 5 bis Ende 1959 zugelassenen 671 italienischen Langfilme, die sämtliche von Staats wegen subventioniert worden seien, das Gesetz sehr großzügig gehandhabt habe. Ja, auf Grund der der Zensur zur Prüfung vorliegenden Drehbücher von neu zu gestaltenden Filmwerken zeigte er durch Vorlesung langer Auszüge deren gesunkenen künstlerischen Wert und die unverkennbare Zuflucht zu pornographischer Darstellung und vulgärem Ausdruck auf. Ob solche Beispiele zu verallgemeinern sind, entzieht sich der Kenntnis der Öffentlichkeit.

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