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Was ist erworbenes Recht?

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In der Auseinandersetzung über die Stillegung von Pensionen wurde bisher vermieden, davon zu sprechen, daß Einschränkungen erworbener Rechte in Österreich kein Novum sind. Sie bestehen seit einem Vierteljahrhundert und haben sich durch alle Schwankungen des Finanz- und Wirtschaftslebens, durch alle Regierungssysteme und durch alle politischen Veränderungen hindurch bis heute erhalten: das sind die Bestimmungen, welche die Versorgungsgenüsse der Witwen nach Lohn- und Gehaltsempfängern im privaten und öffentlichen Dienst betreffen.

Schon das österreichische Angestelltenversicherungsgesetz von 1927 hat festgelegt, daß die Empfängerin einer Witwenrente diese im Falle der Wiederverheiratung verliert. Die deutsche Versicherungsordnung, die 1938 an Stelle de* österreichischen Rechtes trat und noch immer in Geltung ist, enthält die gleiche

Verfügung. Die ihr zugrunde liegende Auffassung nimmt keine Rücksicht darauf, daß der verstorbene Gatte das Recht auf eine Hinterbliebenenrente für seine Witwe erworben und durch seine Beitragsleistung sichergestellt hat. Hier hat sich vielmehr der Gedanke durchgesetzt und behauptet, daß der Rentenanspruch nur solange wirksam bleibt, als die Witwe nicht einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch infolge einer neuen ehelichen Verbindung gewinnt. Ob in dieser zweiten Ehe der tatsächliche Unterhalt auch gewährleistet ist oder nicht, bleibt dabei außer Betracht. Wenn sie dagegen ein Einkommen aus Quellen anderer Art bezieht (Gewerbe, Arbeitseinkommen, Vermögen usw.), tritt der Entzug der Rente nicht ein.

Die schwerwiegenden Auswirkungen dieser Bestimmung sind allen bekannt, die mit sozial-kultureller Tätigkeit befaßt s;nd: eine Unzahl von Konkubinaten mit allen ihren zerstörenden Folgen.

Die zweite Gruppe von Ausnahmebestimmungen richtet sich gegen Witwen und Pensionistinnen des öffentlichen Dienstes, die zugleich Witwen nach öffentlichen Angestellten sind.

Den letztgenannten stünde sowohl der für die eigene Arbeit (und Einzahlung in den Pensionsfonds) gebührende Ruhegenuß wie auch ein Versorgungsgenuß nach dem verstorbenen Gatten zu. Der Grundsatz der Unantastbarkeit erworbener Rechte hat aber für sie wie für andere Witwen nach öffentlichen Dienstnehmern keine Geltung, wenn man sich nicht mit der im allgemeinen unwirksamen Zusicherung zufrieden geben will, daß die Stillegung der Rente nicht die Aufhebung des Rechtsanspruches bedeute.

§ 54 (4) der Dienstordnung für die Beamten der Bundeshauptstadt Wien (GRB vom 20. Dezember 1946) lautet: „Witwen erhalten ... den Versorgungsgenuß neben Bezügen aus einem öffentlichen Dienstverhältnis nur insoweit, als ihr Arbeitseinkommen hinter 78,3 Prozent der für den Ruhegenuß anrechenbar gewesenen Dienstbezüge des verstorbenen Beamten zurückbleibt.“

Bezüglich der Witwenrente besteht die gleiche Auffassung wie im Angestelltenversicherungsgesetz.

§ 47 (1) lautet: .Der Versorgungsgenuß gebührt der Witwe bis zu ihrem Lebensende oder bis zu einer Wiederverheiratung.“ Dazu ergänzt § 47 (2): „Sollte einer Witwe, die sich wieder verehelicht hat und abermals Witwe wurde, ein zweiter Witwenbezug aus Mitteln der Stadt Wien gebühren, so erhält sie nur den höheren Bezug.“

Durch den Ausdruck „gebühren“ wird das Recht der Witwe auf den zweiten Versorgungsgenuß deutlich anerkannt, doch gleichzeitig lehnt es der Dienstgeber ab, diesem Recht zu entsprechen.

Der Vollständigkeit halber muß erwähnt werden, daß die Pensionsstillegung oder -kürzung auch männliche Pensionisten der Gemeinde Wien betrifft, die aus einem anderen öffentlichen Dienstverhältnis Bezüge erhalten.

Die Dienstordnung für die Angestellten der Wiener Krankenfürsorgeanstalt enthält in der dazu gehörigen. „Pensionsvorschrift“ analoge Bestimmungen (§ 15 [1] und [5]).

In dieser. Pensionsvorschrift wird der Witwe — bezüglich der Rechte auch die Lebensgefährtin gleichgestellt (§ 14 [5]): „Die Lebengefährtin, sofern sie bis zum Zeitpunkt des Ablebens des Angestellten mit diesem im gemeinsamen Haushalt gelebt hat, ist der Witwe gleichzustellen und hat daher unter Ausschluß jeder anderen Person den Anspruch auf Versorgung im Sinne dieser Vorschrift unter nachstehenden Bedingungen.“ — Unter diesen ist nur Punkt 1 von Bedeutung: „Die Aufnahme der Lebensgemeinschaft muß der Anstalt schriftlich bekanntgegeben worden sein.“

Daraus ergibt sich praktisch, daß zwar die Wiederverehelichung den Verlust der Rente nach sich zieht, nicht aber das Eingehen einer Lebensgemeinschaft ohne gesetzliche Bindung. Eine solche ist auch unter den Gründen zur Entziehung der Rente nicht erwähnt, freilich wohl deshalb, weil sie, wenn sie nicht ausdrücklich einbekannt ist oder zu Nachkommenschaft führt, schwer oder gar nicht nachweisbar ist. — Durch den Einfluß, den Maßnahmen solcher Art auf die öffentliche Meinung nehmen, fördern sie das Uberhandnehmen gesetzloser Verbindungen.

Gestützt auf die Auffassung, daß niemand von ein- und demselben öffentlichen Dienstgeber zwei Renten beziehen dürfe, hat die Einschränkung der Versorgungsansprüche der Witwe auch in die Dienstordnungen des Bundes und der Länder Eingang gefunden. Fiskalische Rücksichten gingen überall über erworbenes Recht und über ernste Forderungen der Ehemoral hinweg.

Die Debatte über den Plan Hillegeist ist .vorläufig abgebrochen. Aber sie hat jene andere Frage aufgerollt: „W a s i s t erworbenes Recht? — Gibt es Grenzen seiner Geltung und unter welchen Voraussetzungen?“ Wie immer diese Frage beantwortet wird, es gilt das Unrecht gutzumachen, das allein schon in der Anwendung verschiedenen Rechtes in gleicher Sache liegt.

Man könnte einwenden, die Stillegung und der Entzug der Witwenpension sei eben alte Übung, und im Gesetz und in der Praxis längst verankert. Wird dadurch Unrecht zu Recht? Uber dem geschriebenen Recht steht das ungeschriebene, stehen die sittlichen Forderungen, die jede Rechtsmaterie tragen müssen. Und auch über dem Personalrecht und der Sozialversicherung steht das verfassungsmäßig gewährleistete Recht der Gleichheit aller -Staatsbürger vor dem Gesetz. Im Rechtsstaat gilt nicht nur der Satz: „Recht muß Recht bleiben“, sondern auch der andere: „Gleiches Recht für alle.“

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