Bösartiger Wiedergänger

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Verglichen mit Franzobel ist der Karikaturist Deix ein liebevoller Maler von Heimatidyllen.

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Verglichen mit Franzobel ist der Karikaturist Deix ein liebevoller Maler von Heimatidyllen.

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Dieses Buch ist einfach ungeheuerlich. Punkt und Pause. Es ist aber auch ungeheuerlich gut. Franzobels neuer Roman "Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkte" ist harte Kost und strapaziert die Geschmacksnerven. Gegen Franzobel und seine Blasphemie sind die Karikaturen von Deix Heimatidyllen und Thomas Bernhard wird zum liebevollen Apologeten.

Alle Personen seines Romans treffen sich in Rom auf den Stufen der Scala Santa wieder: Lehrer, Polizisten, Fotografen, Juristen, Wirte, Pornohändler und Mitarbeiter in Prothesenwerkstätten. Jene 28 Stufen in einem Haus aus dem 16. Jahrhundert auf der Piazza S. Giovanni in Laterano, das an den alten Lateranpalast erinnert, sollen, so will es die Legende, mit jenen Stufen identisch sein, auf denen Jesus zu Pontius Pilatus ging. Sie werden von Pilgern vor allem am Karfreitag auf den Knien passiert. Franzobel sieht in einer übersteigerten Religiosität, die auch vor Marmorfiguren nicht haltmacht, die begriffen oder auch begrapscht werden, eine Form der sexuellen Perversion. Deren gibt es in diesem Roman freilich viele. Unter seinen Personen finden sich auch kirchliche Würdenträger, die ausschließlich an Jünglingen interessiert sind.

Die Abgründe, in die der Bachmann-Preisträger taucht, könnten nicht tiefer sein. Vieles davon ist bereits alltäglich. Manches lässt sich nur mit jenen Höllendarstellungen in Kirchen vergleichen, in denen, oft nur ein oder zwei Seitenschiffe von der Erlösung und Anbetung entfernt, das ganze tödliche und perverse, aber mögliche menschliche Spektrum geboten wurde. So gesehen hat auch Franzobels Nebeneinander, haben diese literarischen Abgründe eine Berechtigung, dienen nicht nur der Effekthascherei, sind nicht bloß Mittel der Provokation.

Diese Einsicht musste sich aber auch der Rezensent erst mühsam erkämpfen. Über viele Seiten begleitete ihn beim Lesen die permanente Frage "Warum tue ich mir das an?" Der Point of no return war nach etwa hundert Seiten erreicht. Franzobel ist nicht zuletzt auch eine Herausforderung für die Toleranz. Denn ohne nach Zensur zu rufen, bleibt doch die Frage, ob Kunst tatsächlich alles darf. Oder soll. Sie muss natürlich dürfen, auch wenn es weh tut. Doch es fällt schwer, ein Menschenbild zu akzeptieren, das nur unter der Gürtellinie Blüten treibt. So faszinierend die Sprachgewalt des Autors auch ist. Sie durchschneidet die Sümpfe.

Franzobels Überraschungen, sein Witz, die Kanten und Ecken, die er in seine sprachlichen Bilder einbaut und die natürlich auch verletzen und anwidern, führen auch zu einer blutigen Erkenntnis, die zu einer anderen Sicht der Welt zwingt. Mit dieser Radikalität ist der Autor wohl unübertroffen. Und es stellt kaum eine Übertreibung dar, dass für so manchen bekannten Autor, nicht nur unter den österreichischen, die Bilder, die hier auf nur ein oder zwei Seiten zu dichten allegorischen Teppichen gewebt werden, in denen man versinkt und sofort wieder in die harte Realität zurückgeprügelt wird, für ganze Erzählungen und Romane reichen würden.

Da eine der Personen Fotograf ist, bleiben zum Beispiel auch Gedanken über dieses Metier nicht aus: "In den dichten goldenen Rahmen taten Familien auf Steinbruchfröhlichkeit, dabei gingen gleich nach dem Klick Gerölllawinen die Gesichter runter. Als wollten die Enkel den Großeltern dauernd sagen: Euch verdanken wir uns jetzt. Ihr Idioten. Wir danken. Daneben Brautleute mit bäurischen Frisuren, rosa gesurten, eingepökelten Gesichtern, pensionierte Professoren mit Pfeifen-in-der-Hand-Gebrechen, Bücher auf dem Schoß, Ich-hab-mich-ein-Leben-lang-enthalten-Blick. Und mittendrin!? Der gleiche weichgesottene Hintergrund, die gleiche bei Fotografen so beliebte Eierfarbenschmiererei..."

In diesem Roman gibt es Erfahrungen, die sich wie Parasiten festsetzen. Beiläufige Bemerkungen lassen Gedanken zu Abwaschwasser werden, "lösen zuerst das Fett heraus und laufen dann davon, lassen einen innen hohl, nur die Haut zurück". Gedankenwirbel durchtoben den Kopf und danach fühlen sich Personen wie Pferde vor der Kutsche ins Geschwätz gespannt.

Die Handlung auch nur annähernd nacherzählen zu wollen, wäre hoffnungslos. Die Verwicklungen sind auch zweitrangig, das Geschehen liefert nur den Anlass, menschliche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu sezieren. Die Anspielung auf die Geschichte der Josefine Mutzenbacher ist nur eine von vielen Anspielungen, es handelt sich um keine Fortschreibung der Wiener Dirnen-Memoiren. Die polizeilichen Ermittlungen über diverse Morde sind nur der äußere, handfeste Rettungsanker für Verunsicherte, die nicht wissen, in welche Gewässer sie da gestoßen wurden.

Falls es literarische Gespenster gibt, ist Franzobel ein bösartigerer Wiedergänger, gemischt aus Fritz von Herzmanovsky-Orlando und Heimito von Doderer. Der Bezug ist unverkennbar, denn der Ort des Geschehens liegt in unmittelbarer Nähe der Strudlhofstiege. Hier wie dort spielen Stufen und Stiegen eine zentrale Rolle. Äußeres Zeichen des literarischen Tributs an Herzmanovsky ist die Namensgebung der Titelfiguren. Sie heißen Heinrich Gerngross, Meinrad Kalabresendorfer, Patricia Herrgott-Wixinger, Fifi Krumpl, Ludovica Hasentürl und Baruch Weinzwang, um nur einige zu nennen.

In den Franzoblschen Abgründen ist Österreich wie ein Golfplatz, und "Wien, die Hauptstadt, bloß ein Loch. Die Wiener hatten auch den Weitblick von typischen Lochbewohnern. Sie waren unnachgiebig, übersahen nichts, fürchteten Erschütterungen", nicht zu vergessen die bunten ausgelassenen Gesichter, die widerliche Freude, die sofort bereit war, Hinrichtungen beizuwohnen, zu applaudieren, wenn Köpfe rollten.

Diesen untergründigen Seelenstrom will Franzobel aus der Kanalisation an die Oberfläche leiten, samt allem Dreck, allen kaum erträglichen Widerwärtigkeiten. Handelt der Roman vielleicht versteckt auch vom Wunsch, allmächtig zu sein, wie jener Fotograf Florian Ziegelböck, der sich danach sehnt, die marode, ungerechte Welt geradezubiegen?

Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkte. Roman von Franzobel. Zsolnay Verlag, Wien 2000. 394 Seiten, geb., öS 291,- / e 21,15

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