S10_Arbeitslosigkeit - © Foto: iStock/ wenmei Zhou

Für einen Arbeitsmarkt, der alle mitnimmt

19451960198020002020

Langzeitarbeitslose Menschen werden vielfach vom Aufschwung abgehängt. Damit sie den Weg zurück in die Erwerbstätigkeit finden, ist auch die Sozialpolitik gefordert. Ein Gastkommentar.

19451960198020002020

Langzeitarbeitslose Menschen werden vielfach vom Aufschwung abgehängt. Damit sie den Weg zurück in die Erwerbstätigkeit finden, ist auch die Sozialpolitik gefordert. Ein Gastkommentar.

Werbung
Werbung
Werbung

Allen Befürchtungen zum Trotz haben sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt seit der Pandemie besser entwickelt als erwartet. Allerdings steigt seit April dieses Jahres die Arbeitslosigkeit insgesamt zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder leicht an. Im Mai gab es knapp 9.000 Arbeitslose mehr als im gleichen Monat des Vorjahres. Trotz vielbeschworenem Fach- und Arbeitskräftemangel ist mit fast 75.000 Menschen nach wie vor fast jede dritte arbeitslose Person langzeitbeschäftigungslos, also seit über einem Jahr ohne nennenswerte Unterbrechungen beim AMS gemeldet.

Das zeigt deutlich, dass längst nicht alle Menschen von der Konjunktur mitgenommen werden und problemlos in den Arbeitsmarkt einsteigen können. Angesichts der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften sowie dem demografischen Wandel, in dem wir uns befinden – die Baby-Boomer-Generation geht in die Pension – bedeutet das auch verschüttete Kompetenzen und Potenzial, das dem Arbeitsmarkt vorenthalten bleibt.

Die Problemlagen und Stolpersteine, warum Menschen langzeitarbeitslos werden, sind beinahe so vielfältig wie die Menschen selbst. In der Erfahrung des Netzwerkes von „arbeit plus“ wird jedenfalls sichtbar, dass diese Menschen arbeiten und etwas zur Gesellschaft beitragen wollen. Die häufigste Ursache, die sie davon abhält, eine langfristige Erwerbsarbeit aufzunehmen, sind unpassende Rahmenbedingungen sowie das Problem von unbezahlter Care-Arbeit, das vor allem Frauen betrifft. Vor allem im ländlichen Raum fehlt es an institutionellen Angeboten für die Betreuung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen – und es fehlt an flexiblen Arbeitsplätzen.

Wer sind die Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind?

Für 30.000 Menschen stehen gesundheitliche Einschränkungen einer Vollzeitstelle im Weg. Sowohl für Menschen mit physischen Beeinträchtigungen, etwa nach (Arbeits-)Unfällen oder schweren Krankheiten, als auch für Menschen mit psychischen Belastungen, welche besonders in der Pandemie stark zugenommen haben, braucht es angepasste Arbeitsplätze sowie ein gutes Netzwerk für die Versorgung.

Die Gefahr der Negativspirale

Ein weiterer, über die Jahre wachsender Anteil von langzeitarbeitslosen Menschen, sind Menschen mit geringer formaler Bildung. Das sind aktuell 49,2 Prozent.

Ohne passende Strategie zur Qualifizierung sind sie auf einfache Arbeiten angewiesen. Diese finden oft in Branchen mit niedriger Entlohnung und schlechten Arbeitsbedingungen statt. Das spiegelt auch die Statistik wider: 8 Prozent der Erwerbstätigen leben laut EU SILC unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze von 1.392 Euro monatlich. Mehr als zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen in Österreich gelten als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

Das verdeutlicht die Gefahr der Negativspirale von Niedriglöhnen, Niedrigarbeitslosengeld, Armut und Ausgrenzung: Das Arbeitslosengeld liegt derzeit bei 55 Prozent des im relevanten Durchrechnungszeitraums bezogenen Einkommens. War dieses bereits niedrig, bedeutet lange andauernde Arbeitslosigkeit eine Bedrohung für die Existenz. Teuerung und Energiekrise verschärfen das Problem. Wenn die Leistbarkeit von Grundbedürfnissen wie Wohnen, Heizung und Nahrung zur täglichen Herausforderung wird, ist es für die Betroffenen kaum möglich, sich auf ernsthafte Arbeitssuche oder gar Weiterbildung zu konzentrieren. Auch Krankheit und Armut bedingen sich gegenseitig: Arbeitslosigkeit, besonders wenn sie lange andauert, kann zu enormen psychischen und physischen Belastungen führen, welche wiederum den Einstieg in den Arbeitsplatz erschweren.

War der Lohn zuvorniedrig, bedeutet langeandauernde Arbeitslosigkeit eine Existenzbedrohung.

Soziale Unternehmen im Netzwerk von „arbeit plus“ unterstützen Menschen in diesen herausfordernden Situationen. Sie bieten von Beratung über Arbeitstraining, bis hin zu befristet geförderter Beschäftigung Unterstützung bei den ersten Schritten am Erwerbsarbeitsmarkt. In den Sozialen Unternehmen gibt es zudem Raum für individuelle Problemlagen, die gelöst werden müssen, bevor eine Arbeitsmarktintegration sinnvoll denkbar ist – etwa Wohnungslosigkeit, Suchterkrankungen oder Schulden. Die ehrliche Frage, die sich Verantwortliche stellen müssen, lautet somit: Was braucht es, um brach liegendes Potenzial zu heben – für einen Arbeitsmarkt, der alle mitnimmt?

Die Erfahrung in Sozialen Unternehmen zeigt: Um das Potenzial dieser Menschen in die Gesellschaft integrieren zu können, braucht es von der Politik einen Aktionsplan mit ausreichenden Ressourcen und ressortübergreifendem Denken. Ziel muss es sein, die Langzeitarbeitslosigkeit systematisch und langfristig zu reduzieren.

Für Benachteiligte zuständig

Bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ist zusätzlicher Druck auf Betroffene das falsche Mittel. Statt Sanktionen sind stufenweise Eintrittsmöglichkeiten, mit Beschäftigung kombinierbare, praxisrelevante Qualifizierungsangebote und gute Rahmenbedingungen wie etwa finanzielle Absicherung in der Qualifizierung und während der Jobsuche oder flächendeckende Kinderbetreuung notwendig. Nur so kann Erwerbsarbeitslosigkeit dauerhaft eingedämmt werden.

S10_Sabine_Rehbichler - © arbeitplus

Sabine Rehbichler

ist Betriebswirtin, hat Erfahrung im Profit- und Non-profit-Bereich und leitet „‚arbeit plus‘ - Soziale Unternehmen Österreich“ .

Eine inflationsgemäße Anhebung des Arbeitslosengeldes ist nicht nur fair, sondern daher unumgänglich. Auch die Unternehmenswelt ist gefordert zu reagieren. Es braucht flexible Arbeitsmodelle, die mit den tatsächlichen Lebensrealitäten arbeitssuchender Menschen vereinbar sind. Dazu gehören nicht zuletzt altersgerechte und gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen, nachhaltige Mobilitätsangebote oder der Ausbau des öffentlichen Verkehrs (besonders zu Arbeitnehmer-freundlichen Zeiten). Zudem braucht es gerade für geringqualifizierte, aber gesellschaftlich notwendige Jobs, wie in der Pflege, der Gastronomie oder im Handel höhere – nämlich existenzsichernde – Löhne.

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik lassen sich nicht trennen. Leistungen der sozialen Sicherung hängen an der Beteiligung am Erwerbsarbeitsmarkt, daher muss sich die Arbeitsmarktpolitik insbesondere für benachteiligte Zielgruppen zuständig fühlen.

Soziale Unternehmen können das. Sie brauchen aber ihrerseits ausreichende Ressourcen und geeignete Rahmenbedingungen. Nur so kann langfristig ein Arbeitsmarkt garantiert werden, der alle mitnimmt.

Die Autorin ist Geschäftsführerin von „‚arbeit plus‘ - Soziale Unternehmen Österreich“ .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung