Ölpest und Vogelgezwitscher

Werbung
Werbung
Werbung

Im Jahre 1799 reiste der Pädagoge und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi in den kleinen Schweizer Ort Stans um dort über hundert Waisenkinder zu pflegen und zu lehren, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und zu meistern. Folgendes gab er seinen Schutzbefohlenen mit: „Kinder. In der Welt lernt der Mensch nur aus Not oder Überzeugung. Wenn er sich nicht mit Vernunft leiten lassen will und außer aller Not ist, so wird er abscheulich.“ Das klingt schon schlimm, doch noch schlimmer ist der Verdacht, dass manche moderne „Leader“ die Not nicht einmal dann als Lernaufforderung erkennen, wenn sie ihnen schon mit vollem Gewicht im Genicke hockt. Dazu zwei Beispiele.

In Toronto sollte auf dem Gipfeltreffen der 20 führenden Wirtschaftsnationen am kommenden Wochenende eigentlich über eine (sehr moderate) Zügelung der Finanzmärkte verhandelt werden. Zur Disposition standen eine Bankenabgabe und eine Finanztransaktionssteuer. Beides würde den notleidenden Volkswirtschaften zumindest einen Teil ihrer krisengroßen Budgetlöcher stopfen.

Eine Frage der Angst

Doch keiner der Vorschläge wird realisiert werden. Wollte man die Essenz aus der vielfältigen Ablehnung ziehen, sie bestünde in der zitternden Frage der Politiker: „Was würden denn die Märkte dazu sagen?“ Gegenfrage: Wenn schon bei simplen Dingen wie einer 0,01-Prozent-Steuer auf kurzfristige Spekulationen die Angst den Kurs diktiert, wie soll da das Großprojekt „Ökologisierung der Wirtschaft“ realisiert werden und die „Abkehr vom Erdöl“?

Zu letzterem Thema lässt sich 2000 Kilometer südlich von Toronto am Golf von Mexiko gerade ein Umweltdesaster beobachten, das nicht nur Naturschützer zum Weinen bringt, sondern nebenbei auch noch die Krise von Wirtschaft und der Moral auf den Punkt bringt: Ein von Manie getriebener Ölkonzern pfeift im Rennen nach der x-ten Gewinnmilliarde auf Vorschrift und Risiko und führt nach vollbrachter Katastrophe monatelang die Öffentlichkeit hinters Licht. Während tausendfältiges Leben im Ölschlamm verendet, sucht die Politik, in diesem Fall Barack Obama, nach einem „Ass to kick“ bei BP. Doch mit jedem Hearing vor dem US-Kongress wird deutlicher, wer da wem die nackte Hinteransicht zeigt. Als Unverschämtheit pro toto nehme man den BP-Aktionsplan zum „Schutz von Walrossen im Golf von Mexiko“, liebe Tierchen, die BP leicht schützen kann, da es sie im Golf von Mexiko gar nicht gibt.

Geisterstunde der Weltpolitik

Das Ernüchternde: Neue Gesetze werden nicht helfen, wo die alten Gesetze schon nicht gegriffen haben. Das Primat des Gewinns steht in letzter Konsequenz höher als das Gesetz – vor allem wenn Politiker und Parteien auf der Payroll großer Energiekonzerne landen, die sie eigentlich zu kontrollieren gewählt sind. 3,5 Millionen Dollar flossen zuletzt von BP an die US-Demokraten und man kann davon ausgehen, dass die Republikaner mindestens ebensoviel erhielten.

Diese lorbeerlosen Zustände führen aber die politische, gesetzliche und die marktwirtschaftliche Ordnung ad absurdum. Eingedenk der Ohnmacht der Politik demgegenüber ergießt sich in diesen Tagen aus so vielen Kommentaren ein grauer Erwartungsstrom Richtung Untergang über die Bürger.

Er wird sich verstärken, sollten die G20 in Toronto bloß dadurch auffallen, dass sie in einem gespenstischen Setting eingelullt von Vogelgezwitscher vom Tonband an einem künstlichen See miteinander speisen. „Da nun“, würde Hesiod sagen, „verlassen Anstand und Ehrgefühl die Menschheit und gehen von der Erde zum Olymp.“ Es sei denn, die Not führte nach Pestalozzi endlich zur Überzeugung, dass Substanzielles geschehen muss. Vom Prinzip des Anstands aus gemessen wären es jedenfalls nur wenige Schritte von Toronto zur Ölpest und zur Absetzung der Raffsucht einiger weniger. Mut bräucht’ es halt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung