Purer Egoismus oder nur Resignation?

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Der Geburtenrückgang in der westlichen Wohlstandsgesellschaft bereitet Kopfzerbrechen. Die Journalistin Andrea Dee hat sich in ihrem Buch auf die Suche nach den Ursachen für die Kinderlosigkeit gemacht.

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Der Geburtenrückgang in der westlichen Wohlstandsgesellschaft bereitet Kopfzerbrechen. Die Journalistin Andrea Dee hat sich in ihrem Buch auf die Suche nach den Ursachen für die Kinderlosigkeit gemacht.

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Sind die Frauen in den westlichen Industriestaaten in den Gebärstreik getreten? Warum sinken die Geburtenraten hierzulande so drastisch und haben mittlerweile ein historisches Tief erreicht, während die UNO kürzlich den sechsmilliardsten Erdenbürger begrüßte?

Ein Buch wagt sich über die Kluft zwischen Müttern als Leidenswesen und den kinderlosen Frauen als Feindbild, das in der westlichen Wohlstandsgesellschaft entstanden ist. Autorin Andrea Dee, unter anderem für den "Standard" und die Zeitschrift "Eltern" tätig, kann keine eindeutige Antwort auf die brennende Frage nach dem fehlenden Nachwuchs geben, der im letzten Wahlkampf plötzlich von allen Parteien als Werbeobjekt entdeckt wurde.

Viele Fragen hängen mit dem Problem der kinderlosen Gesellschaft zusammen und die Autorin ist sichtlich bemüht, das Problem komplex und von vielen Seiten her zu beleuchten. Sie hat ausführlich recherchiert und trägt eine Menge Zahlen, Fakten und Überlegungen in ihrem Buch "Müssen Frauen Mütter sein?" zusammen und gibt damit einige Denkanstöße, die sichtlich der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fehlen oder nicht genügend ernst genommen werden.

Dabei geht es der Autorin darum aufzuzeigen, wie vielfältig die Begründungen dafür sind, daß Frauen heute die klassische Mutterrolle verweigern. Dee sieht darin ein Alarmsignal, eine Art Zeichen dafür, daß vieles nicht in Ordnung ist, denn grundlos verschließen sich die Frauen nicht davor, was für andere "die Erfüllung des Lebens" oder "das höchste Glück" bedeutet.

Andrea Dee begibt sich in ihrem Buch auf die Reise quer durch viele Themenbereiche, die unmittelbar oder indirekt mit der "neuen Kinderlosigkeit" der heutigen Frauen zusammenhängen und findet dabei einige plausible Erklärungen: Zukunftsängste der Menschen angesichts der herannahenden Jahrtausendwende spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Angst vor Arbeitslosigkeit, oder bei Frauen speziell die Angst davor, nach einer Kinderpause nicht mehr ins Berufsleben zurückkehren zu können.

Dabei bricht die Autorin eine Lanze für die Durchschnittsfrau von heute, die Supermarktkassierin oder Schuhverkäuferin, die keinen Traumjob hat und die Doppelbelastung nicht "ganz locker und mit links" schafft, wie das immer suggeriert wird. Dee räumt auf mit den Herzeigefrauen der Medien: "Selbstverständlich sind die Buchautorinnen und Talkshow-Gäste, die da über die Freuden von Mutterschaft und Job berichten, allesamt in höheren Positionen tätig ...Karrierefrauen, die aus purer Lust am Job arbeiten. Und dennoch so viel Cash dabei machen ..."

Drang zur Perfektion Der Drang zur Perfektion wird zum Druckmittel der modernen Gesellschaft: "Jung, schön schlank - nur so ist die Frau heute erwünscht, auch, wenn sie Kinder hat," schreibt die Autorin. "Auch wenn ... alle wissen, daß Demi Moore und ihre Kolleginnen Produkte der Traumfabrik Hollywood ... sind, so tun die Superfrauen doch ihre Wirkung. Sie setzen die Maßstäbe, an denen sich auch das gemeine Fußvolk mißt."

Tatsache ist, daß viele Frauen sich diesen Druckmitteln unterwerfen. Sie geben ganze Vermögen aus, um schlank, fit und schön zu sein. Doch auch von ihrer Karriere her betrachtet haben die Herzeigefrauen nicht unbedingt eine ermutigende Wirkung: Viele Frauen zerbrechen seelisch daran, daß ihr Leben nicht so "erfolgreich" ist wie das der öffentlichen Powerfrauen.

Andrea Dee liefert noch eine Reihe weiterer Gründe, warum sich Frauen heute gegen Kinder entscheiden. Aus vielen Interviews weiß sie, wie sehr der Wunsch, Kinder zu bekommen oder auf sie zu verzichten, mit den Erfahrungen zusammenhängt, die man selbst mit seinen Eltern und seiner Familie gemacht hat, oder auch mit Beobachtungen im Bekanntenkreis. So zitiert sie eine Verlagsassistentin: " ... Ich bin mit meiner Chefin zu ihr nach Hause gefahren. Sie wollte mir einige Unterlagen geben. Als ihre älteste Tochter ... den Mund aufgemacht hat, war ich entsetzt. Ihre Zähne waren in einem fürchterlichen Zustand, ... Meine Chefin war eine klassische Karrierefrau. Sie hat rund um die Uhr gearbeitet, hatte überhaupt keine Zeit für ihre Kinder, ... nicht einmal zum Zahnarzt zu gehen ... Sicher kann sie bei ihrem Einkommen den Kindern beim Start ins Leben einiges bieten. Aber Mutter war sie in meinen Augen keine."

Viele Frauen entscheiden sich aufgrund ihrer Erfahrungen oder auch aus anderen Überlegungen heraus gegen Kinder. Doch in den Industriestaaten bleiben viele Frauen auch ungewollt kinderlos, Zehn Prozent aller Paare sind es bereits in Österreich. Die "Krankheit Unfruchtbarkeit" breitet sich in der Wohlstandsgesellschaft aus und die Wissenschaft ist ihr zwar auf der Spur, steht aber noch vor vielen Rätseln.

Eine Reihe von Entdeckungen der Fruchtbarkeitsforschung hat Andrea Dee in ihrem Buch zusammengetragen. So weiß man heute etwa, daß Alkohol, Nikotin, beruflicher und privater Streß mit eine Rolle spielen, wenn trotz Bemühungen der Nachwuchs ausbleibt, aber auch Umweltgiften, Industriechemikalien und Insektiziden schreibt man einen negativen Einfluß zu.

Boomende Medizin Daß die boomende Reproduktionsmedizin der westlichen Industriegesellschaft einen sehr fraglichen Fortschritt bedeutet, davon ist Andrea Dee überzeugt. Sehr kritisch setzt sie sich mit dem "Big Business" auseinander, faßt die Entwicklung der Fortpflanzungsmedizin zusammen und stellt eine Reihe von neuen Problemen dar, für die es noch keine Lösung gibt: " ... Wer soll die ,überzähligen' Embryonen austragen?" fragt die Autorin etwa und spricht damit das Problem an, daß bei künstlichen Befruchtungen immer mehrere Eizellen befruchtet und in den Uterus eingesetzt werden, um die Erfolgschancen zu erhöhen.

Wollen die einen eigenen Nachwuchs um jeden Preis, so wollen sich die anderen Kinder erst gar nicht antun: Psychische Störungen bei Kindern nehmen drastisch zu. Nicht nur die vieldiskutierte Hyperaktivität ist bei Kindern im Steigen begriffen, immer häufiger sind Kinder auch in ihrer Sprachentwicklung erheblich beeinträchtigt. Dee berichtet von einem 25prozentigem Anstieg der Zahl der sprachgestörten Kinder in Deutschland innerhalb der letzten zehn Jahre und schreibt weiter: "Der Grund für die ,Sprachlosigkeit' der Kinder: Es wird ganz einfach nicht genügend mit ihnen gesprochen. Mütter und Väter haben eben besseres zu tun, als sich mit ihrem Nachwuchs zu unterhalten." Während für die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen auch miteinander gesprochen wird nur 40 Minuten geopfert werden, sitzt man im Durchschnitt zumindest zwei Stunden vor dem Fernseher, bestätigt das Österreichische Institut für Familienforschung. Ein Problem liegt jedoch auch darin, daß viele Kinder zu früh ganztägig in Betreuungseinrichtungen untergebracht werden, schreibt Dee: "Allein von 1997 auf 1998 hat sich zum Beispiel im Raum Wien die Zahl der Kinder, die schon im zarten Alter von einem Jahr ihre Tage auf einem Betreuungsplatz außerhalb der Familie verbringen müssen, vervierfacht (!)."

Verhaltensstörungen Auch Pädagogen, Kindergärtnerinnen wie Lehrer, klagen immer öfter über die rasante Zunahme an Verhaltensstörungen: Nicht nur die "Asozialität" der Kinder bereitet den Erziehern Kopfzerbrechen, die Kinder sind auch immer öfter gewalttätig. In Amerika, aber auch bei uns gab es schon blutige, unbegreifliche Amokläufe von Schülern.

So kommt Andrea Dee zu dem Schluß, daß Frauen heute zum Teil aus "egoistischen" Gründen auf Kinder verzichten: " ...weil sie einen - angeblich - locker-vergnüglichen Lebensstil nicht gegen die Verantwortung der Mutterschaft tauschen möchten ..." - zu einem anderen Teil aber auch aus scheinbar "verantwortungsvollen" Gründen: "Weil sie glauben, keine guten Mütter sein zu können, weil sie in diese Welt mit ihren immer drastischer zerstörten Lebensgrundlagen, den sich immer unsicherer gestaltenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kein Kind setzen möchten."

"Beide Gruppen", schreibt Dee weiter, "spiegeln nur zwei Seiten derselben Medaille: Sie sind Produkte einer Realität, in der kurzfristige, egozentrische Befriedigung weit mehr zählt als teifreichende, dauerhafte Beziehung. Und in der dem Profit alles geopfert wird - sogar die Welt, in der wir leben."

BUCHTIP Müssen Frauen Mütter sein? Die neue Kinderlosigkeit. Von Andrea Dee. Ueberreuter, Wien, 1999, 200 Seiten, öS 291,-/e 21,15

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