Wut, Gewalt, Amok

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Auch Kinder wenden sich immer häufiger in aggressiver Form mit ihren Problemen an die Gesellschaft. Extreme Brutalität gehört dazu.

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Auch Kinder wenden sich immer häufiger in aggressiver Form mit ihren Problemen an die Gesellschaft. Extreme Brutalität gehört dazu.

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Wenig deutete darauf hin, daß die beiden Buben anders waren als andere in ihrem Alter. Sie zeigten sich ordentlich gekleidet, litten keinen offensichtlichen Mangel. Der eine, elf Jahre alt, suchte seinen Spaß beim Kicken und Trompetespielen. Der andere, 13 Jahre, mußte - wie viele andere auch - die Trennung der Eltern erleben, fühlte sich verstoßen und ungeliebt, hatte Probleme mit Mädchen. Jetzt sitzen die beiden im Gefängnis von Jonesboro im US-Bundesstaat Arkansas und wissen keine Antwort auf die bohrende Frage: Wie konnte das geschehen?

Schwer bewaffnet, in Kampfanzügen, hatten sie sich als Heckenschützen postiert und Klassenkameradinnen kaltblütig ins Visier genommen. Die Ziele waren ausgewählt, die Schüsse treffsicher. Vier Mädchen und eine Lehrerin haben das Blutbad nicht überlebt.

Draußen vor dem Gefängnis richtet sich inzwischen die Wut einer Gesellschaft auf die beiden kleinen "Bestien". Die Todesstrafe sei die gerechte Antwort auf diese schreckliche Tat, sagten einige geschockte Einwohner vor laufender Kamera. Eine schnelle Lösung für ein entsetzliches Problem: Was tun mit Killer-Kindern ...?

Jonesboro war sicher nicht der letzte Schauplatz. Brutalität dieser Art findet sich bereits überall, wo Gewalt unter der dünnen Tünche einer scheinbaren Friedlichkeit abrupt hervorbricht. In der Mediengesellschaft richtet sich die Aufmerksamkeit aber nur mehr auf besonders spektakuläre Ereignisse wie zum Beispiel diese: zwei Zehnjährige erschlagen in Liverpool einen Zweijährigen mit Steinen. Kinder zünden in Paris einen Obdachlosen an. Ein Hauptschüler schießt in Niederösterreich ganz einfach seinen Direktor in den Kopf. Der Vorfall in Zöbern ist ebenfalls in frischer Erinnerung: ein Hauptschüler stürmt in die Klasse, "um ein paar Mädchen zu vergewaltigen". Als sich die Lehrerin in den Weg stellt, drückt er hemmungslos ab ...

Das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtete kürzlich über die wachsende soziale Verwahrlosung, Aggression und Brutalität unter den Halbwüchsigen in Deutschland. Neu dabei: auch Mädchen rasten immer häufiger aus und schlagen zu, prügeln und foltern, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht.

Auch in Österreich stellen Psychologen fest, daß die Gewaltbereitschaft aus nichtigem Anlaß unter Jugendlichen zunimmt, ebenso destruktives und aggressives Verhalten, verbale und physische Attacken und Zerstörungswut.

Im selben Ausmaß nimmt die Fähigkeit, Probleme und Schwierigkeiten, Krisen und Konflikte halbwegs zivilisiert zu bewältigen, ab. Die Spannung aus diesen Situationen entlädt sich mitunter in brutalster Form. Der Tod von Menschen wird dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar bewußt gewollt.

Was sich bei Kindern und Halbwüchsigen derzeit beobachten läßt, leben längst auch die Erwachsenen vor: Wer die anstehenden Lebensaufgaben nicht mehr ohne gröbere Schwierigkeiten bewältigen kann, dreht einfach durch. Schon wieder ein Amoklauf.

Jeder von uns kann es tagtäglich erleben: Wir sind eine gereizte Gesellschaft geworden. Da werden Verhaltensweisen im täglichen Umgang an den Tag gelegt, die längst nicht mehr verharmlost oder toleriert werden dürften: Totaler Ellbogeneinsatz und Egoismus (was auch den Kindern anerzogen wird), Wurstigkeit, gnadenlose Ignoranz und erschütternde Gedankenlosigkeit. Wen wundert's wirklich, daß am Ende dieses Repertoires auch Haß, Gewalt und Amokläufe stehen?

Viel zu selten noch wird die Frage zum Thema gemacht, wie der Gewalt und Aggression in kleinen Lebensräumen wie Schulen oder Familien beizukommen ist. Wie Kinder und natürlich auch Erwachsene dazu befähigt werden können, soziale Fähigkeiten auszuformen, kritische Situationen durchzustehen und Spannungen auszuhalten, beziehungsweise wie das pädagogisch bewältigbar ist.

Gründe für diese Entwicklungen gibt es viele - ein weites Feld für Psychologen und Pädagogen. Aber eines ist längst klar, auch wenn es immer wieder beiseite geschoben wird: Die Aggression, die Gewalt, das Morden trägt die Handschrift des Medienzeitalters. Die Glotze ist zum beherrschenden Umfeld in vielen Familien geworden - und daher auch eine Orientierung. Wenn Gewalt als Unterhaltung tagtäglich über den Schirm flimmert, wenn dort die Menschen Probleme ständig mit Waffen oder Brutalität lösen - dann gehört das irgendwann zu den herrschenden Denkkategorien von (jungen) Menschen, die entsprechend labil sind und in einem gewalttätigen Umfeld leben.

Die solcherart angeregte Mordlust durch ungehemmten Medienkonsum trägt das Ihre zu diesen tödlichen Überraschungen bei: die TV-"Realität" wird zur schockierenden Wirklichkeit.

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