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„Die Kirche selbst bleibt heilig”

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Politik und Religion gehen in Rußland Hand in Hand. Trotz mancher Konflikte sind die Politiker an den Kirchen als stabilisierende Faktoren interessiert.

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Politik und Religion gehen in Rußland Hand in Hand. Trotz mancher Konflikte sind die Politiker an den Kirchen als stabilisierende Faktoren interessiert.

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Der Auftritt ist gut inszeniert: Ein moslemischer Geistlicher empfängt die Gruppe deutscher und österreichischer Journalisten vor der Moschee im Zentrum von Kasan. Es tue ihm wirklich leid, aber der Mufti sei leider verhindert - irgendeine dringende Reise. Er selbst werde deshalb versuchen, alle Fragen zu beantworten.

Wenige Minuten später steht eine schmächtige Gestalt in der Türe des Empfangsraums. Der Mufti persönlich. „Mein Name ist Abdullah Hasrad. Ich hatte leider keine Einladung zu diesem Treffen, aber ich bin trotzdem gekommen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.” - Verwirrt schauen sich die Journalisten an. Der Mufti selbst sorgt für Aufklärung: Das Treffen sei von der Regierung der Teilrepublik organisiert worden - und mit der liege er gerade heftig im Clinch.

Tatarstan ist eine der 21 autonomen Republiken Rußlands. Ihre 3,6

Millionen Einwohner sind jeweils zur Hälfte Orthodoxe und Muslime. ExKommunist Mintimer Schaimijew hält als Präsident die Zügel fest in der Hand. Ihm gaben 97 Prozent der Wähler ihre Stimme. Gegenkandidaten gab es keinen. Angeblich fürchtete die Opposition eine vernichtende Niederlage.

Mufti Abdullah Hasrad weiß um seinen Einfluß als Oberhaupt der tatarischen Muslime. Denn die Entwicklung der Kirchen ist, wie überall in Rußland, rasant: 1989 gab es in der Teilrepublik 53 religiöse Gemeinden. Zu Beginn dieses Jahres waren es schon 839, davon waren 635 Moscheen. Hasrad klagt über eine ganz spezielle Form des Mangels an Geistlichen: „Es kommt zur absurden Situation, daß Moscheen errichtet werden. Sie bleiben aber leer, weil wir mit der Ausbildung unserer Studenten nicht nachkommen.” Die Republik tue zu wenig, um den religiösen Nachwuchs vor Ort auszubilden.

Doch sein Gerede um den Konflikt mit Schaimijew ist nur beschränkt glaubwürdig. Denn den Großteil des benötigten Geldes bekommen die Kirchen vom Staat. Er stellt ihnen Grundstücke und Gebäude für die Moscheen kostenlos zur Verfügung. Auch die Ausbildung der Geistlichen wird zu einem großen Teil vom Staat finanziert. Sogar die Flugzeuge für die Pilgerfahrt nach Mekka kommen von der Regierung. Schaimijew bekennt sich zu dieser großzügigen Förderung: „Die Religion ist ein enorm wichtiger Stabilisierungsfaktor. Die Führungen von Muslimen und Russisch-Orthodoxen verhindern das Einsickern von radikalen Elementen.”

In wichtigen Fragen kann der Präsident denn auch auf die Unterstützung der religiösen Führer zählen. Mufti Hasrad versucht das herunterzuspielen: „Wir haben den Kampf der Republik um die Souveränität unter stützt. Sonst sind wir in der Politik eher in der Beobachterrolle.” Daß er sogar im Tschetschenien-Krieg zu vermitteln suchte, erwähnt der Mufti nur nebenbei.

Auch die russisch-orthodoxe Kirche ist sich ihres politischen Einflusses bewußt. In Nischnij Novgorod, der drittgrößten Stadt Bußlands, umschreibt das Metropolit Nikolai sehr diplomatisch: „Der Staat versteht ganz gut die Bolle der orthodoxen Kirche in der moralisch-ideologischen Erneuerung.” Erstaunlich schnell haben die Orthodoxen die Anpassung an die neuen Machtstrukturen vollzogen. Auch Nikolai ist, so scheint es, ein glühender Verfechter dieser „moralisch-ideologischen Erneuerung”: „Unsere Zeit ist sehr schwierig, weil sie noch mit der alten Mentalität verbunden ist. Die alte Mentalität steht auch bei den Beformen in den religiösen Gemeinden im Weg.”

Mit Fragen nach der Bolle seiner Kirche in der kommunistischen Ära Bußlands mag sich der Metropolit da nicht mehr aufhalten: „Was gewesen ist, ist gewesen. Die Kirche selbst bleibt immer heilig. Ich persönlich habe nie ein Dokument gesehen, das gezeigt hat, daß ein Priester den KGB unterstützt hat.”

Viel lieber spricht er über die Probleme von heute. Sie ähneln jenen des Mufti von Tatarstan. Zwar würden der Kirche viele Gebäude zurückgegeben, aber diese seien meist „in einem peinlichen Zustand.” Auch Priestermangel macht die Seelsorge schwierig. Zwar gebe es inzwischen wieder 270 Kirchen in seiner Jepar-chie, doch 60 hätten keinen Priester.

Kritik an der derzeitigen Bolle der orthodoxen Kirche üben Reformer. Die Abgeordnete Tatjana Jarygina von der Reformpartei „Jawloko” findet, „daß die Kirche ihre Funktion nicht entsprechend wahrnimmt. Sie ist mehr mit sich selbst beschäftigt, dabei könnte sie einen viel größeren Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten,” Und das sei derzeit, meint Jarygina, wohl die Hauptaufgabe. Schließlich lebt rund ein Viertel der Bussen unter der Armutsgrenze.

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