Proteste

Ex-Botschafter Dan Ashbel sieht Israels Demokratie in Gefahr

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Wer den Wirbel um Israels Justizreform herunterspielt, der irrt, warnt der ehemalige Botschafter Israels in Österreich, Dan Ashbel. Netanjahu und Co beanspruchten die absolute Macht. Ein Gastkommentar.

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Wer den Wirbel um Israels Justizreform herunterspielt, der irrt, warnt der ehemalige Botschafter Israels in Österreich, Dan Ashbel. Netanjahu und Co beanspruchten die absolute Macht. Ein Gastkommentar.

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Seit mehr als 35 Wochen demonstrieren die Massen in Israel. Laut Einschätzung der israelischen Polizei haben zirka sieben Millionen Menschen an rund 4400 Demonstrationen teilgenommen – bei einer Bevölkerung von etwas mehr als 9,6 Millionen Menschen. Im Durchschnitt fanden jede Woche um die 125 Demonstrationen – mit im Schnitt 200.000 Demonstranten – statt. Dies sind zweifelsohne die größten Demonstrationen in der Geschichte Israels. Niemand und schon gar nicht die Regierung konnte sich diese Dauer, diese Entschlossenheit, dieses Ausmaß im Jänner 2023 vorstellen.


"Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter"

Als Justizminister Yariv Levin seine umfangreiche sogenannte Justizreform in einer Pressekonferenz präsentierte, dachten er und sein Chef, Premierminister Benjamin Netanjahu, es würde einen kurzen Wirbel geben und dann ginge man zur Tagesordnung über. „Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter“, so lautet ein altes arabisches Sprichwort. Nichts dergleichen geschah.

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Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

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Die meist politisch apathische Masse erwachte und fühlte: Sie müsse handeln. Keine politische Partei hat die Zügel in die Hand genommen, sondern junge Frauen und Männer aus den verschiedensten Bereichen des Lebens. Hightech-Entrepreneure – denen oft vorgeworfen wird, sie interessiere nur Geld – schwenkten die blau-weiße Fahne und warnten vor der Abkopplung Israels von der internationalen Gemeinschaft. Ihnen schlossen sich Reservesoldaten an – die die Sicherung Israels und seine Existenz in Gefahr wähnten – und forderten Menschenrechte für alle.

Religiöse und Säkulare gingen Hand in Hand – motiviert, jenes Israel, das sie kennen und lieben, zu retten. Und die Jugend, der wir „Alten“ vorgeworfen hatten, sie interessiere sich für nichts, erschien in Massen und führt die Demonstrationen Woche für Woche an.

Der Staat hat weder eine Verfassung noch zwei Kammern im Parlament. Hinzu kommt die Koalitionsdisziplin, nicht
gegen Regierungsbeschlüsse zu stimmen.

Jedes Wochenende sind es Hunderttausende, die im ganzen Land für Demokratie demonstrieren. In Jerusalem versammeln sich Tausende vor der Residenz von Israels Präsident und verkünden ihre Liebe zum Land und ihre tiefe Besorgnis um dessen Zukunft. Es ist die Furcht vor dem Ende einer offenen und demokratischen Gesellschaft, die sie umtreibt. Um den Religiösen die Teilnahme zu ermöglichen, fängt die Demonstration erst nach dem Ende des Schabbats (etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang) an. So schlüpfe ich in mein T-Shirt, auf dem „Diplomats for Democracy“ gedruckt ist, und schließe mich meinen pensioniertn Kollegen an. Allein sind wir nicht. Ärzte und Krankenschwestern tragen mit Slogans bedruckte Kleidung, die klar und deutlich vor der Gefahr für das Gesundheitssystem warnen, wenn die demokratischen Regeln ignoriert oder – ja – zerstört werden. Juden wie Araber beteiligen sich an diesen Demonstrationen.

Jene sind mitnichten aus einem Holz geschnitzt, aber alle fühlen die Verantwortung für die Zukunft des Landes. Die Demonstrationen verlaufen friedlich, der Aufwand der Polizei ist überschaubar.

Wer den Versuch unternimmt, die heutige Situation in Israel als normal darzustellen, und sagt, alles sei nur halb so schlimm, gleicht meiner Meinung nach dem Mann, der aus dem 50. Stockwerk eines Hauses fällt. Beim 20. fragt jemand: „Wie geht’s?“, woraufhin er antwortet: „Bis jetzt ist alles in Ordnung.“ (Dan Ashbel bezieht sich hier auf folgenden Gastkommentar von Ben Segenreich in der FURCHE: "Israel ein Gottesstaat?")

Wer in Tel Aviv und Umgebung lebt, sieht ein anderes Bild als wir in Jerusalem und in vielen Teilen des Landes. Tel Aviv ist mit dem übrigen Israel nicht zu vergleichen. Vielleicht schade, aber es ist eine Tatsache. Die jetzige Regierung Netanjahu hat eine parlamentarische Mehrheit von 64 Abgeordneten (von 120). Eine Hälfte von ihnen sind entweder ultraorthodoxe, messianische oder nationalistische Religiöse. Sie halten eine Hälfte der Regierungskoalition, obwohl sie „nur“ 26 Prozent der Sitze in der Knesset haben. Ohne diese Parteien hat Netanjahu keine Regierung. Diese Parteien werden ihrerseits von dem Motto geführt „Jetzt sind wir dran – und alle anderen gehen uns nicht an“. So ein kleines Land wie Israel – knapp ein Viertel von Österreich –, das auch ethnisch und religiös so vielfältig ist, kann nur florieren, wenn der Slogan „Lebe und lass leben“ die Politik prägt. Leider wurde dieses Motto mittlerweile außer Kraft gesetzt.

Menschenrechtsfragen im Fokus

Israel ist eine parlamentarische Demokratie, daran besteht kein Zweifel. Es muss aber daran erinnert werden, dass Israel weder eine Verfassung noch zwei Kammern im Parlament hat. Hinzu kommt die Koalitionsdisziplin, dass die Abgeordneten der Koalitionsparteien nicht gegen Regierungsbeschlüsse stimmen. Das bedeutet, dass in Israel praktisch nur zwei Instanzen existieren: Regierung und Legislative auf der einen Seite, die Justiz auf der anderen. Eine parlamentarische Mehrheit kann weitestgehend ungehindert agieren.

Nur der Oberste Gerichtshof kann verabschiedete Gesetze aufheben. In der 75 Jahre langen Geschichte Israels geschah das bei insgesamt 22 Gesetzen. 20 der Gesetze waren mit Menschenrechten verbunden. Die sogenannte Justizreform, die von der Regierung im Jänner 2023 vorgestellt wurde, wird daher der Regierung quasi eine absolute Macht verleihen. Der erste Schritt wurde schon vollzogen. Die Knesset hat für die Aufhebung des Prinzips der Angemessenheit gestimmt. Dieses Prinzip wurde vom Obersten Gerichtshof angewendet, um unangemessene Regierungsentscheidungen zu stoppen. In einem nächsten Schritt soll die Zusammenstellung der Wahlkommission für Richter geändert werden. Die Koalition erhält damit ein praktisches Vetorecht– der entsprechende Gesetzesvorschlag liegt bereits in der Knesset. Und wenn die zwei oben genannten Gesetze nicht greifen, so kommt der dritte Vorschlag zum Zug: der Überwindungsabsatz.

Dieser wird es der Knesset ermöglichen, jede Entscheidung des Obersten Gerichtshofs außen vor zu lassen. Diese „Reform“ ist eine wahre Gefahr für Israel. Wenn sie durchgeführt wird, wird Israel keine Demokratie mehr sein. In den kommenden Tagen kommt das „Gesetz zur Stornierung der Angemessenheit“ vor die Vollversammlung des Obersten Gerichtshofs ,das heißt, alle 15 Richter sind involviert. Würde das Gesetz aufgehoben und würde die Regierung und damit die Knesset diesem Entschluss tatsächlich nicht Folge leisten, würde damit eine unvorstellbare konstitutionelle Krise ausgelöst werden.

Nach den vergangenen acht Monaten ist alles möglich. Israels Demokratie ist in Gefahr.

Der Autor war von 2005 bis 2009 Botschafter des Staates Israel in Österreich und über 40 Jahre im diplomatischen Dienst tätig.

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