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Eine Stadt ist zu entdecken

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Die meisten Fremden scheinen zu glauben, daß Braunau fast nur aus jenem Haus bestehe, in dem am 20. April 1889 draußen in der sogenannten „Salzburger Vorstadt“ vor dem Stadttor die Frau eines kaiserbärtigen Zollbeamten von einem gesunden Buben entbunden fįpurde. Der alte Hindenburg wiederum verwechselte partout Braunau am Inn mit Braunau in Böhmen, das kannte er aus dem

Sechsundsechzigerfeldzug, daher nannte er A. H. immer den „böhmischen Gefreiten“. So oder so:

eine Stadt ist zu entdecken, die wesentlich mehr zu bieten hat als Reminiszenzen aus der neueren Geschichte.

Heute zählt sie etwa 15.000 Einwohner, die Eingemeindung von Ranshofen mit seinem großen Metallwerk verschaffte der Linken Reichshälfte das Übergewicht und damit den Bürgermeistersessel. Die Stadtväter amtieren hinter einer Fas-sade, die sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts etwas zu breit und in architektonischer Lesebuchromantik betulich schnörkelig Bürgerstolz mimend in die schöne Geschlossenheit des ans Innufer mündenden Marktplatzes zwängte. Dieser Platz aber hat sein Gesicht glücklicherweise fast unversehrt bewahrt, Max Dvorak würdigte ihn in seinem „Katechismus der Denkmalpflege“ (1918) als Musterbeispiel organisch gewachsenen Bestandes. Hohe, schmale Fronten der Bürgerhäuser mit Blendgiebeln, Spitzgiebeln und Pultdächern verleihen ihm seinen Charakter, seine Palette weist die Fassadenfarben des Landes an Inn und Salzach: Blaßgrau, Hellblau, Kaisergelb, Pistaziengrün, Zuckerlrosa, Pompejanischrot. Da und dort haben sich noch Stuckdecken erhalten, und die Besitzerin des uralten „Gnändingerhauses“, eine kenntnisreiche, passionierte Heimatkundlerin, wohnt sogar ganz stilgemäß unter einem gotischen Gewölbe aus der Zeit, da Braunau noch bayrisch war.

Durch Hofarkaden mancher dieser Häuser sieht man den ragenden Turm des Stefansmünsters, einen der höchsten Kirchtürme Österreichs, gotisch emporgewachsen, im Barock neu behelmt. Das Münster selbst überrascht durch großzügige gotische Raumgestaltung und Altäre im strengen Frühbarock der • Meister Martin und Michael Zürn aus Burghausen, deren Plastiken dem nördlichen Innviertel das künstlerische Gepräge geben.

Unter den Grabsteinen an der nördlichen Außenmauer der Kirche fällt das große Epitaph des Bürgers und Rates Hans Staininger auf, der in der Zeit Karls V. lebte. Dieser etwas kokett wirkende Herr ist eine sehr markante Figur der lokalen Überlieferungen, darum findet sich sein Abbild auf dem Rathaus, auf dem Torturm und als Statuette an einer Ecke in der Altstadt. Obwohl sich Staininger eigentlich nur durch seinen Bartwuchs hervortat. Da er seinen Bart in zwei welligen Strähnen bis zu den Fußspitzen wachsen ließ. Nach der Sage soll er sich über eine Treppe zu Tode gefallen haben, weil er einmal in der Eile vergaß, den Bart aufzuwickeln. Wer das Braun- auer Heimathaus besucht, findet dort in einer Vitrine neben Wappenbrief und Kupferstichen die kamelhaarblonde Pracht in natma.

Auch die Erinnerungen an den Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm sind — ins Gemütliche, Beschauliche abgebogen — noch wach. Palm, bekanntlich der Verleger der Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“, wurde am 26. August 1806 von den Franzosen vor den Mauern der Festung Braunau erschossen. Auf dem Friedhof ist noch Palms Grabstein erhalten, nur noch als Symbol freilich, denn seine sterblichen Überreste wurden schon im vorigen Jahrhundert nach Nürnberg überführt.

Die Staatsgrenze verläuft, strenggenommen, in der Mitte der Inn- brücke, doch die österreichischen Zöllner amtieren gemeinsam mit den bayrischen Grenzern und dem deutschen Bundeszoll am Simbacher Ufer, wo zwei gleich große Schilder anzeigen, daß man den Freistaat Bayern und nebenher auch die Bundesrepublik Deutschland betrete, täglicher Weg vieler Braunauer, die „drüben" arbeiten oder einkaufen. Und die kritische, wenn auch eher rhetorische Frage des Zöllners am Schlagbaum: „Führen Sie etwas mit? Haben Sie etwas eingekauft?“ ist den Einheimischen fast so geläufig wie die suchenden Blicke kamerabewehrten Fremden vorgebrachte Erkundigung: „Bitte, wo ist denn hier das Haus ...?“

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