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Blickt nach vorn im Zorn...
Ein flüchtiger Besucher des heutigen Ungarn wird unweigerlieh in den groben Fehler verfallen,“, die propagandistische Behauptung der dortigen geschulten Sympathiewerber als bare Münze anzunehmen: „Bei uns ist alles in Ordnung; der Lebensstandard ist so hoch wie noch nie; alle Leute sind zufrieden!“ Manches deutet wirklich darauf hin: das äußerliche Bild von Budapest ist nicht von jener grauen Tristesse erfüllt, die sonst in den kommunistischen Ländern, besonders in den trüben Wintertagen, einen Besucher aus dem Westen schmerzhaft beeindruckt. Gerade jetzt — in jenen Tagen, in denen vor zwanzig Jahren hier die Waffen verstummt sind — fällt einem auf, daß bis auf wenig Ausnahmen fast alle Wunden, die der Krieg in das harmonische Weichbild der einstigen „Perle an der Donau“ geschlagen hat, verheilt sind. Die Brücken sind alle wieder aufgebaut, die Häuser renoviert, und die über der Donau dominierende ehemalige königliche Burg geht ihrer Fertigstellung entgegen. Die Bevölkerung ist gut genährt, durchschnittlich angezogen, wobei besonders 'bei den Frauen verschiedentlich eine schüchterne Eleganz unbedingt festgestellt werden muß. Die Lokale, Theater und Kinos sind gut besucht, das Publikum scheint zur Faschingszeit fröhlich, wenn auch nicht ausgelassen zu sein. Das rein äußere Bild deutet daher auf einen gewissen Wohlstand hin.
Wie gesagt, es darf nicht allein nach den Äußerlichkeiten geurteilt werden. Sicher geht es den Budapestern besser als vor zwanzig Jahren, bedeutend besser als vor zehn Jahren und sogar merklich besser als im Vorjahr. Geht es ihnen aber wirklich gut? Ist der Wohlstand nicht nur auf eine dünne Schicht von Nutznießern des Regimes und auf dessen Liebkinder, die sogenannte ..werktätigen Intelligenz“, also auf die Ärzte, Künstler aller Schattierungen und insbesondere auf die „Neue Klasse“, zu beschränken?
Wenn man eine Analyse darüber anstellt, welche Beweggründe zum Ausbruch der Revolution im Herbst 1956 die Jugend dazu aufputschte, zu den Waffen zu greifen, kann man eindeutig feststellen, daß es lediglich nationale Gründe waren: es entlud sich die Wut über die geistige Unterdrückung. Daß bei dieser stürmischen Bewegung die jugendliche Intelligenz die führende Rolle übernahm, war nur selbstverständlich. Von einer geistigen Unterdrückung kann heute nicht mehr die Rede sein, höchstens von einer einseitigen und sehr intensiven Lenkung. Man müßte daher annehmen, daß die Intelligenz, die verschiedentlich vom Regime gefördert zu sein scheint, heute — nachdem ihr einige der wichtigsten Forderungen, für welche sie in den Kampf zog, zugestanden wurden — ihren Frieden mit dem Regime schloß.
Um so überraschender ist es, daß die heutige junge Intelligenz — man weiß nicht, was man schreiben soll — noch immer oder erneut oder erst recht gegen das Regime opponiert. Diese Opposition ist keine stürmische, keine lärmende, aber sie zeigt, daß dem Regime die Jugend langsam aber sicher aus der Hand gleitet. Seit mehreren Monaten wird in der literarischen und kritischen Zeitschrift „Uj Iräs“ (Neue Schrift) eine Forumsdiskussion unter dem Titel „Geständnis der Jugend“ geführt, in welcher junge ungarische Nachwuchskräfte aus allen Gesellschaftskreisen zu Wort kommen. Freimütig, manchmal sogar selbstquälerisch offenbaren sie jene Gedanken, welche sie beschäftigen. Und diese Geständnisse sind schreiende Aussagen dafür, daß die ungarische Jugend ihre freiheitliche Gesinnung nicht verloren oder, besser gesagt, in vollem Maß wiedergewonnen hat.
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