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Das Geheimnis Österreichs

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Die eindrucksvollen Kundgebungen zur Erianerung an die schicksalsschweren Märztage des Jahres 1938 sind vorüber. Noch einmal sind vor dem Geiste die sorgenreichen Jahre und Monate der Vorgeschichte aufgestanden, die Österreichs Überwältigung einleitete, die schlaflosen Nächte, die die um das Unabwendbare Wissenden oft nicht rasten ließen. Es hatte für sie schon seit langem keine Täuschung mehr gegeben. Die Großmächte, die später ihre Versäumnisse mit Strömen Blutes bezahlen mußten, waren mit anderen Fragen beschäftigt. Diese Irre-denta, die zwei Staaten Mitteleuropas befallen hatte und in den nördlichen Randgebieten der Tschechoslowakei noch geschlossener auftrat als in Österreich, galt ihnen nicht mehr denn eine innerdeutsche Angelegenheit. Der Brite fand Mühseligkeiten genug in Ägypten, Arabien, Palästina, Indien; der Vorstoß des mussolini-schen Imperialismus über Äthiopien bis in die Quellgebiete des Blauen Nils, das waren vornehmüchere Punkte auf der politischen Tagesordnung des Weltreiches als die Zukunft der paar zehntausend Quadratkilometer an der Donau oder an den Grenzen Sachsens und Schlesiens. Und Frankreich hatte genug zu tun, um mit den inneren Konflikten fertig zu werden, die ihm aus dem Bürgerkrieg des spanischen Nachbars herübergerutscht waren. Mussolini freilich wußte, um was gespielt wufde. Er fürchtete ein Heranrücken Deutschlands an die italienische Grenze. Hitler flößte ihm seit der ersten persönlichen Begegnung durch sein lautes, schulmeisterndes Wesen Widerwillen ein. Aber je mehr er sich von der traditionellen Politik Italiens entfernte, die es durch seine Mittelmeerstellung an die Freundschaft der größten europäischen Seemacht wies, je mehr der Duce, dem Verhängnis des Diktatorenhochmutes verfallen, in Verfeindung mit England hineinschlitterte, desto aussichtsloser mußte es erscheinen, daß er sich an dem entscheidenden Wendepunkte den Plänen Hitlers, den er nun selber als Bundesgenossen gegen England zu brauchen glaubte, in den Weg stellen werde.

In dieser Lage gab es für die österreichische Politik nichts anderes, al immer mit den Mitteln des passiven Widerstandes dem zu erwartenden Zusammenstoß auszuweichen, ihn zu verzögern, in der entfernten Hoffnung, daß irgendein Deus ex machina, irgendein Ereignis in dem internationalen Geschehen eine Veränderung herbeiführen werde.

Es war nur ein schwaches Flämmchen der Hoffnung, das da brannte. Und schließlich — in den ersten zwei Monaten 1938 — verlöschte es völlig. Als am 12. Februar der österreichische Kanzler, kreideweiß im Gesicht vor bebender innerer Erregung den Hohensalzberg verließ, da wußte er, daß der lang erwartete Schlag nahe bevorstand. Es gab nur die Wahl- Kapitulation oder Ausharren erhobenen Hauptes bis zum Letzten in dem Bekenntnis zu Österreich mit allen persönlichen Konsequenzen. Viele derjenigen, die dann in den April- und Maitagen aus ihren Ämtern und öffentlichen Stellungen hinter die turmbewehrten, starkstromgeladenen Gehege von Dachau und Buchenwald wanderten — nicht wenige auf Nimmerwiederkehr — hatten gewußt, daß sie, die auf den Berliner Schwarzen Listen Verzeichneten, dieses Schicksal erwartete. Und sie hatten dennoch ausgeharrt, im Bewußtsein, daß sie ihr Zeugnis für die Unabhängigkeit Österreichs nicht umsonst ablegen werden — weil Europa zu seiner dauerhaften Ordnung dieses unabhängige Österreich braucht.

Es wird immer ein Schulbeispiel für das Versagen bloßer diplomatischer Einrichtungen und für die Notwendigkeit eines wirksamen internationalen Statuts zum Schutz des Weltfriedens bilden, daß damals die diplomatischen Observatorien der Großmächte die unentrinnbare Automatik des Geschehnisses an der Donau nicht erkannten und noch am 30. September die in München mit Hitler versammelten Regierungschefs Englands, Frankreichs und Italiens glaubten mit der feierlichen Überlassung der sudetendeutschen Randgebiete an das Dritte Reich das hereinbrechende Unheil beschwören, den Frieden retten zu können. Das Münchner Abkommen, der größte politische Sieg Hitlers, ließ einen zerfransten tschechoslowakischen Staat zurück, ein wirtschaftlich und militärisch fast absurdes Gebilde. Die Automatik ging weiter: Die Errichtung des Protektorates des Dritten Reiches über diesen slawischen Staat, den Nachbar Polens, das nun auch in den zusammenbrechenden Bau der mitteleuropäischen Ordnung hineingerissen wurde.

Ein altes Sprichwort sagt: „Qui mange du Pape, en meurt“. „Wer von dem ißt, was dem Papste gehört, der stirbt daran“. — Die Stellung Österreichs und seines Volkes an dem Schnittpunkte bedeutender nationaler und ökonomischer Kräfte ist so entscheidend, daß das Vergreifen an seiner Unabhängigkeit die Balance umwerfen und demjenigen, der sich hier gewaltsam zum Erben machen wollte, in jene unlösbaren Probleme tödlich verstricken mußte, die aus dem Verschwinden der mitteleuropäischen Funktion dieses Staates unausweichlich entstehen. Hitler erfuhr davon zum ersten Male, als sein Plan, Jugoslawien als neuen Nachbarn Deutschlands in die Achse neben Italien einzuspannen, katastrophal verunglückte, verunglücken mußte, weil ein Großdeutschland, das zugleich Nachbar Italiens und Jugoslawiens war, zufolge der zwischen den beiden Staaten bestehenden natürlichen Gegensätze, nicht zugleich — um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen — auf zwei Kirchtagen* — in Rom und in Belgrad — tanzen konnte.

Es ist die Macht und das diesem Österreich innewohnende Geheimnis, daß die

Unabhängigkeit unseres Landes immer für alle andern dieses Kontinents notwendig sein wird, wenn sie Frieden haben wollen.

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