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Das judische Problem

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VOR MOSKAUS TOREN. Von Mendel Mann. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main. 206 Seiten. Preis 16.80 DM

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VOR MOSKAUS TOREN. Von Mendel Mann. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt am Main. 206 Seiten. Preis 16.80 DM

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„Vor Moskaus Toren“ ist ein merkwürdiges, ja in mancher Hinsicht ein einmaliges Buch. Abgesehen davon, daß es dm Original in Jiddisch geschrieben wurde und von einem jüdischen Schicksal im historisch-entscheidenden Winter 1941 erzählt — also ein an und für sich inhaltsreiches Thema —, birgt das Buch Spaltungselemente schizophrener Art in sich, die aber durch die Intensität des Erlebens bedingt sind. Eigentlich besteht das Buch, das das Schicksal eines in Polen geborenen, später in die Sowjetunion verschlagenen Juden erzählt, aus zwei Teilen.

In dem einen Teil erzählt der Verfasser von Rußland und den einfachen russischen Menschen, vor allem von den russischen Bauern und den Soldaten im Winter 1941. Er erzählt von dem russischen Dorf Tenguschai, von seinen Einwohnern, von den durch den Krieg ihrer Männer und Ernährer beraubten Familien, von einer liebenden, menschlich-herrlichen Frau namens Lioska. Der Autor versteht es, mit kurzen, eindrucksvollen Szenenschilderungen epische Wirkung zu erzielen; die Mobilisierung der Waldbauern, deren Fronterlebnisse, die totale Vernichtung ganzer russischer Regimenter, die von der deutschen Technik überrannt werden, und das einzigartige Sichfinden der russischen Kriegsmaschinerie im Winter 1941. Wie 40 Grad Kälte und die riesige, zu jedem Opfer bereite Menschenmasse auf einmal zu einer Einheit werden, deren einziges Ziel es ist, den Eindringling, diesen Fremdkörper, aus ihrem Leib zu entfernen. Dabei wird diese Einheit von menschlichem Wollen gelenkt und geführt, ohne daß im Buch die Repräsentanten dieses Wollens namentlich hervortreten. Man spürt nur die harte Hand dieser Führung. Das Buch wird zu einem Zeitdokument, das durch die Person seines Autors glaubwürdig wirkt, der bestimmt keine Sympathien für die Sowjetmacht hegt. Dieser Teil des Buches ist das ausgezeichnete, interessante Werk eines reifen Dichters.

Nun aber zum zweiten Teil, den man als den jüdischen Teil bezeichnen könnte. Die Familie, das heißt, die Angehörigen, alle Bekannten sind erschossen worden. Das Milieu,dem man entstammt, ist vernichtet worden. Durch irgendeinen Zufall ist man als einziger übrig geblieben und in die Sowjetunion verschlagen worden. Von zwei Wünschen wird unser Held beseelt: Er will gegen die Deutschen zusammen mit den Russen kämpfen. Dieses „zusammen“ ist dabei ein wichtiger Faktor und gleichzeitig sein zweiter Wunsch. Er sucht eine neue Umgebung, Menschen, die ihn vorbehaltlos aufnehmen und unter denen er das Wort „wir“ gebrauchen kann. Dieser seelisch vollkommen ausgedörrte Mensch sucht nach der Lebenssubstanz. Diese an und für sich dramatische Situation wird vom Autor noch weiter verschärft, da Menachem (so heißt der Held des Buches) die ganze Zeit auf Ablehnung als Jude, als „Saujude“ (Seite 92) stößt. An Hauswänden sieht er mit Kreide oder Teer gemalte Aufschriften, die voll des Hasses gegen die Juden sind: „Tod den Juden!“ „Der Jude ist am Krieg schuld!“ Auch von seinen russischen Vorgesetzten, seinen ukrainischen Kameraden an der Front, von den NKWD-Offizieren scheinen Menachem manche judenfeindlich gesinnt zu sein. So folgt ein Konflikt dem anderen und erreicht seinen Höhepunkt, als Menachem wegen disziplinwidrigen Verhaltens im Dienstdegradiert und in die Kohlenbergwerke verschickt wird. Daß er dann auf den letzten Seiten des Buches wieder den Weg an die Front findet, ist wohl „gestellt“. Neben diesem Schicksal voller Wirrnisse irrt die Gestalt des Autors hilflos umher.

Und doch findet Menachem Menschen, welche ihn ohne Bedenken als den ihrigen aufnehmen. Das waren die Bauern von Tenguschai. Sie spürten die reine Herzensliebe Me-nachems. „Darum gewannen sie ihn lieb wie das eigene Blut, wie einen alten Nachbarn aus dem eigenen Dorf, obwohl er nur ein Jahr bei ihnen gelebt hatte“ (Seite 64). Hier fand Mendel Mann das entscheidende Wort.

Ich bezweifle, ob es richtig ist, das jüdische Problem überhaupt aufzurollen. Mir scheint, die „Endlösung“ dieses Problems liegt einfach darin, daß man es nicht mehr als Problem betrachtet. Es gibt doch auch kein Problem etwa der Tschechen in Wien, der Polen in Frankreich usw. Warum soll das Judentum ein Problem sein? Solange das Problem aber gestellt wird, und es wird immer wieder gestellt, werden sich Tragödien abspielen wie jene, welche in ihrer Grausamkeit, Sinnlosigkeit und menschlich erniedrigenden Art von Mendel Mann erfaßt wurden.

Das Buch soll man lesen, das Problem vergessen. Dies klingt paradox, aber das Leben ist nicht weniger paradox.

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