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Das letzte Spiel

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Die Wiener Vorstadtbühne. Alexander Girardi und das Theater an der Wien. Von Rudolf Holzer. Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien. 648 Seiten

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Die Wiener Vorstadtbühne. Alexander Girardi und das Theater an der Wien. Von Rudolf Holzer. Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien. 648 Seiten

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Der Altmeister der Wiener Theaterkritik hat hier ein Werk geschaffen, um dessen prächtige Ausstattung sich mit Recht Staat und Städte (Wien und Graz) bemüht haben. Die zahlreichen Bilder und Faksimiles gehören ganz eng zum Thema: wird hier doch in reicher Fülle ein Material nicht "nur zur Theatergeschichte Österreichs zwischen 1770 und 1918, dem Todesjahr Girardis, därgeboten, sondern auch zur inneren Geschichte unseres Landes. Kultur und Geistigkeit, Politik und Gesellschaft, die Auseinandersetzung zwischen Hochkultur der „Gebildeten“, ausländischen Bewegungen und einer Volkskultur von unvergleichlicher Dichte fanden jeweils einen getreuen Spiegel in der Wiener Volkskomödie und im Wiener Vorstadttheater. Wehmütig blickt Rudolf Holzer auf jene Zeit zurück: „Zeitung und Theater waren in jenen Tagen viel inniger, viel intensiver verbunden als heute. Kritiker, Journalist, Direktor, Schauspieler, Komponist, Dichter, Librettist standen irgendwie als geistige Gemeinschaft einander sehr nahe.“ Weil dem so war, konnte Holzer kaleidoskopartig jene letzte Zeit des Wiener Volkstheaters darstelien im Prisma von ihrer aller Meinungen, Handlungen, Briefen, Kritiken, Nach einer Geschichte des Leopold- städter-, Wiedner- und alten Josefstädter Theaters, aufgelöst in kurze Monographien der hier leitenden und mitschaffenden Persönlichkeiten, die bereits mitten hinein führt in die innere Krise Altösterreichs um 1850, das Geburtsjahr Girardis, verfolgen wir hier den Weg Girardis zum Meister der Wiener Operette. „Er machte die Operette zum eigentlichen, wirklichen Volksschauspiel der fran- zisko-josephinischen Generaton.“ Der Schauspieler des Volkes „tauchte auf der dichterischen Volksbühne als seltener Gast auf". Der Grazer Schlosserbub hat die Pariser Operette überwunden, die Wien und Österreichs

Theater erobert hatten; er erzwang, wie Holzer sagt, von Strauß und Millöcker die Wiener Operette. Nicht erzwingen, nicht schaffen konnte er ein neues dichterisches Volksschauspiel, nicht erzwingen konnte er den Anschluß nach „oben“, die echte Versöhnung von literarischer Hochkultur und Bildungswelt mit dem volkhaften Untergrund, der einst, im Barock, irgendwie beide getragen hatte. Glänzende Individualitäten, Schauspieler, Musiker, Librettisten, kritische Köpfe, Direktoren — sie ziehen hier in einem lebendigen Reigen an uns vorbei. Bilden einen Zauberflötenvorhang (Schutzumschlag des Buches!) vor dem, was nicht gesehen werden wollte, nicht gespielt werden konnte: die Tragödie des inneren Absterbens der altösterreichischen Volkskultur in der industriellen und nationalen Welt des späten 19. Jahrhunderts. Von nachher gesehen, erscheint dies fast gespenstisch: es ist, als ob dieser Mann aus dem Volke dessen Unruhe, tiefe Sorge vor allem Kommenden, hinwegspielen wollte mit seinem „Temperament", überspielen den Riß und Zusammenbruch Alteuropas, den gerade sehr „kleine Leute" mit dem Instinkt des Gefährdeten erspürten. So viel Lachen, so viel Heiterkeit konnte nur aus einer tiefen Angst geboren werden. Der sich vor großer Premiere hastig über und über Bekreuzigende huldigt nicht einfach dem uralten „Aberglauben" der fahrenden Gaukler, Schauspieler und Poeten, sondern ist, wie auch in den Wallfahrten zum Grab der Mutter, von einer letzten Unsicherheit gequält; die sich im Unterbewußtsein versteckt, aus dessen tiefen Quellgründen aber seine strahlende, ausschwingende Heiterkeit speist: gefallen Gott vielleicht die alten Spiele, die alten Rollen der Menschen, in dieser alten, sündenalten Welt nicht mehr? Will Er vielleicht neue Rollen, neue Spiele, denen sich die Menschen noch verwehren? — Girardi wußte keine Antwort. Ihm deshalb einen Vorwurf zu machen, wäre gleichbedeutend mit der Anklage: warum er die beiden Weltkriege nicht verhindert habe. Diese stehen ja in intimstem Zusammenhang mit dem Absterben der alten Volkskultur und ihrer Aussagemöglichkeit im Theater. Vergessen wir doch das Wort Kafkas über den ersten Weltkrieg nicht: er sei aus einem schrecklichen Mangel an Phantasie entstanden. An guter Ein-Bildungskraft, am Sterben der „Großen Formen“ und des guten Gesichts also, wie wohl Kassner sagen würde.

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