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Psychologie der Operette

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„Die gesamte christliche Dichtung zum Beispiel bis Dante, ja bis heute, ist eine Ausstrahlung des Neuen Testamentes, und wenn die ganze Literatur unterginge, das Neue Testament aber erhalten bliebe, so könnten aus ihm immer neue, ähnliche Literaturen hervorgehen. Nur die paar .heiligen Bücher' der Menschheit besitzen solche Zeugungskraft und nur sie überdauern die Jahrtausende und die Weltkrisen.. .“

Der Nobelpreisträgei Hermann Hesse in der .Antwort auf ein* Umfrage' 1937

Viel bewundert und viel gescholten ist sie wie die schöne Helena, der sie sich schon in ihren Anfängen bemächtigte, und mehr als über irgend eine andere Kunstgattung stehen die Meinungen und Urteile über das lockere Musenkind gegeneinander, ohne daß diese selbst davon wesentlich beeindruckt wird. Seine Anhänger sind so zahlreich, daß sie niemals überstimmt werden, und seine Ablehner so standhaft, daß sie ihr Vergnügen ^nie zugeben.

Am schärfsten prallen die Ans;chten unter den Musikern selbst aufeinander. So mancher bekämpft die Operette und wäre glücklich, nur eine ihrer prickelnden Weisen zu erfinden, so mancher liebt sie, der aus ganz anderen Regionen des Musizierens kommt und — ihr auch nicht gewachsen ist. Denn sie ist ein bis zum Exzeß launisches Ding und lehnt hundert ernste Bewerber ab, um ihre Gunst, wenn es ihr paßt, einem Dahergelaufenen zu schenken.

Vielleicht ist es wahr, daß manche ihrer musikalischen: Schöpfer gar nicht instrumen-reren konnten; im ganzen jedoch war es nicht nur ein Fehler, sondern eine große Überheblichkeit, die Operetrenkomponisten mit einer Handbewegung abzutun. Vielfach haben sie sogar mehr gekonnt als ihre ernsten Kollegen, waren gelegentlich selbst vom ernsten Fach, kamen von der Kirchenmusik oder von der Opernbühne her und bekannten ehrlich, daß es leichter sei, ein ernstes Kunstwerk zu schaffen als eine erfolgreiche Operette. Denn diese lebt vom Erfolg allein, ohne sich auf andere innere Gesetze zu berufen, denen sie trotzdem genau so unterworfen ist, wie ihre würdevollere Schwester. Es gibt gute Opern, denen der Erfolg versagt ist; doch nur die erfolgreiche Operette ist eine gute Operette. Fehlt ihr der Beifall, verschwindet sie aus der Musikgeschichte ebenso wie von der Bühne, und die beste Besetzung kann sie ebenso wenig retten wie die solideste Partitur. Launenhaft, ist sie selbst ein Kind der Laune, mit der sie kommt und geht, zuweilen aber auch Geschidite macht.

Trotz vieler Verwandlungen im Laufe der Zeiten ist sie in ihrem Wesen unverändert geblieben. Im Grunde war die am 29. Jänner 1728 in London uraufgeführte Bcggars opera (Bettleroper), die als opus eins der Operette gelten kann, schon auf die gleiche instinktive Bereuschaft des Publikums gerichtet wie alle ihre berühmten Nachfolgerinnen. Wie sehr sie unter Ottenbach cancanierte, unter Johann Strauß walzerte, und in neuester Zeit jazzte, sie ist die Oper der kleinen Leute geblieben, hinter ihren frivolsten Verkleidungen eine Tochter des Bürgertums, zuweilen sogar des Spießbürgertums neuerer Prägung. Dies entscheidet ihren Erfolg. Sie enthüllt die „große Welt“ in genau jener romantischen Lädierlidikeit, jener

Courths-Mahler-Perspektive, in der diese von den K'einen nun einmal betrachtet wird: mißtrauisch, neidisch und sehnsüchtig. Ihr happy end ist immer das der bürgerlichen Vorstellung, und hinter allem Kitzel gefährlicher Situationen und Voraussetzungen steht am Ende die handfeste Moral, wenn auch nur als deus ex machina. Sie ist der Ausflug des Kleinbürgers ins Abenteuer und seine Heimkehr in die polizeibehüteten vier Wände. Wer kann da widerstehen?

Damit wäre die Bedeutung der Operette ersdiöpft — bis auf die Hauptsache, die Musik. Und hier beginnt das große Geheimnis. Die trockenen Pfefferkuchenfiguren werden auf einmal (zwar nicht von Sec!e und Ethos, aber doch von Schicksal und Stimmungen) belebt, werden Menschen unserer Tage, nehmen unsere eigenen Züge an, tun wichtig wie wir, und plötzlich wird uns bewußt, daß wir, über sie erheitert, uns selber herzlich auslachen. Das Leben ist so einfach, der Mensch so kompliziert — das ist ungefähr die Binsenwahrheit, die uns die Operette vermittelt. Aber just dieser Binsenwahrheit leben wir leider nicht nach, sonst hätten wir auf den Luxus, der Habsucht, der Selbstsucht, des krankhaften Ehrgeizes und unserer anderen schönen Eigenschaften längst verzichtet, die uns lebenslang wie Wolken vor der Sonne hängen.

Die Hauptsache jedoch: dieses nichts weniger als schmeichelhafte Spiegelbild nimmt uns durch die kulinai isdien Reize seiner Farben, Töne und Rhythmen die Bitterkeit der Selbsterkenntnis, sie parodiert nicht nur uns, sondern auch die Verhältnisse, die uns zu dem gemacht haben, was wir nun einmal sind und spricht ans damit unserer Fehler gewissermaßen wieder frei, so daß wir nicht gerüffelt und belehrt, sondern angeregt und amüsiert das Theater verlassen, nicht anders, als hätte uns ein vornehmer Bekannter zugeblinzelt: Schon gut, wir kennen einander!

Die Operette ändert ihren Ton mit der Gesellschaft, die ,sie parodiert. Sie ist ein verkapptes Sittenstück. Schon die erwähnte Bettleroper hatte das heimliche Verhältnis einer Dame der guten Gesellschaft mit einem — Räuberhauptmann zum Inhalt, und irgend wie erinnert noch heute jede Operette an diese Fabel. Die Bettleroper hatte einen derartigen Erfolg, daß die Royal Academy, das königliche Opernhaus Londons, damals von keinem Geringeren als Georg Friedridi Händel geleitet, ihre- Pforten aus Mangel an Besuchern schließen mußte und Händel beinahe wörtlich an den Bettelstab kam. Sie erlebte bereits ein Jahr nach ihrer Uraufführung eine Fortsetzung („Polly“, 1729).Nicht nur die kleinen Leute, auch die großen Geister bis in die höchsten Kreise zogen das homerische Gelächter im John-Field-Theater der pathetischen Erbauung im Opernhause vor.

Es liegt ein tief moralischer Zug in diesem Geschehen, so gegenteilig der Anschein ist. Am Ende aber beweist diese Fr*cheinung nichts anderes als die alte Wahrhcdaß der Trieb des Menschen nach befreiender Ehrlichkeit stärker ist als der nach heldischer Erhöhung. Das Lachen über unsere eigenen Schwächen ist ein Bekenntnis derselben und macht uns freier als alle großen Worte und lauten ' Fanfaren. Die Tragödie überwindet die menschliche Schwäche durch den Tod, die Operette bekennt sie ein — and lebt weiter. Das ist der echtere Adam, dessen erstes Exemplar es bereits vorzog, im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu verdienen, statt sich, seine paradiesische Genäschigkeit sühnend, heldisch in den Euphrat zu stürzen. Auch der zur inneren Erhebung bereite Mensch sieht sich nach ein bißchen Annehmlichkeit des äußeren Lebens um, sogar der Wiener von heute.

Nun muß allerdings sogleich gesagt werden, daß die Operette sich gewöhnlich um dergleichen Dinge, die vielleicht unbewußt ihre Wirkung mitbestimmen, nicht viel kümmert und, oft selbst Opfer ihrer Themen, Übelstände vielfach mehr glorifiziert als persifliert. Der Umgang mit der großen Welt hat sie verdorben und damit auch den Geschmack ihres Publikums. War sie in ihren Anfängen Geist im Kleide des Unsinns, wurde sie später immer mehr Unsinn im geistreichen Kleid. Was heute auf der Operettenbühne erklingt, ist der amerikanische Trauermarsch auf den Tod der Wiener Operette.

Zweifellos sind bereits viele emsige Hände am Werk, sie wieder zum Leben zu erwecken. Aber ihr Mühen wird leider vergeblich sein, solange die Erneuerung nach dem alten Rezept versucht wird. Denn die Operette, wie sie war, ist ein Luxuskind und hat.keinen Platz in unserer Armut, darin sie nur wie ein gerupfter Vogel herumhüpfte. Eine Sängerin und ein Tenor, eine Soubrette und ein Komiker, vermehrt um eine komische Alte und den Hans Moser des dritten Akts — aus solchen Ingredienzien braut man keine Bowle mehr. Wir werden eine neue Operette haben oder wir werden keine Operette haben.

Die neue Operette aber braucht fürs erste, was die alte niemals hatte: einen Dichter. Nicht einen, der pathetische Verse macht, sondern einen, der sie lächerlich macht. Aber einen Dichter, der die neuen Menschen sieht (und die alten in ihnen erkennt), an ihnen das Typische erfaßt und auf die Bühne bringt. Nur was die Menschen untereinander verbindet, wird auch Bühne und Publikum wieder verbinden. Was die alte Operette parodiert hat: Arisiokratenromantik, Standesunterschiede und Opernpathos, ist längst verschwunden. Wir fangen als die Überlebenden des Vernichtungswahns sozusagen von vorne an. Aber auch wir haben ein Herz, das sich nach all dem Jammer der vergangenen Jahre und den Entbehrungen der Gegenwart entspannen und erfreuen will, nicht mehr an einer Fata Morgana des Unsinns, sondern am humorvoll verklärten tönenden Spiegelbild unserer fatalerweise nun einmal nicht besseren Zeit. Dies aber muß der Dichter schaffen. Aus seinem Werk mag den nachahmenden Textklitterern wieder ein Weizen blühen.

Der Komponist aber muß diesem Spiegelbild unser eigenes Leben einhauchen. Die neue Tonsprache, die Atonalität wird es nicht vermögen, denn die Operette will nicht zukunftweisend sein, wird immer mehr zurücklächeln in die gute alte Zeit als vorwärts in die neue, immer ungewissere. Ihre Substanz ist nicht die unbekannte, sondern gerade die bekannte, freilich nicht in sklavischer Nachahmung benutzte. Denn auch mit den probaten großen Tanznummern wird sie nicht erneuert, auch wenn sie noch so amerikanisch tun, und schon gar nicht mit dem weinseligen Rührlied. Wir haben wenig Sinn für Redouten und keine Gelegenheit zum Weinbeißen, ein Feuchtfröhlicher ist unser Ebenbild nicht. Wir wollen der Welt nicht wieder das Zerrbild des Wieners geben. Die Welt ist heute in Wien und erkennt den Irrtum. Wir haben andere Sorgen — und nicht zu wenig; es würde ans freuen,sie zumindest in der Operette zu überwinden. Das Couplet wird uns mehr geben als der Rumba, ein flott gebautes Ensemble mehr als ein Revueschlager, eine groteske Fuge mehr als ein sentimentales Duett mit Walzerrefrain. Der Wiener Walzer ist freilich auch heute noch wienerisch, und es beweist die Verfremdung der Operette, daß er immer seltener wurde. Ich glaube aber, auch er wird ein neues Gesicht haben, ein jüngeres Kind des ewigen Wiener Ehepaares Elegie und Obermut sein. Und das verwöhnte Luxuskind Operette wird die kostbare Abendrobe mit dem Dirndl vertauschen, denn die „Oper der kleinen Leute“ muß Volkslieder singen können und aus ihrer Welt sein. Die Halbwelt ist gestorben.

Die neue Operette hat nicht nur Daseinsberechtigung, sondern bereits Aufgaben. Und sie wird da sein, wenn ihre Zeit gekommen ist. Unserer neuen Kunst fehlt der Humor. Es tut not, daß in die tragischen und düsteren Klänge wieder ein fröhliches, herzliches, übermütiges, leichtsinniges Lachen tönt

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