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Das soziale Element in Österreichs Schrifttum

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Die österreichische Dichtung war stets durch eine ursprüngliche, selbstverständliche, man möchte sagen naive Einstellung zur Gegebenheit der sozialen Verwurzelung des Einzelmenschen gekennzeichnet. Selbst den größten Individualisten und Ästheten der österreichischen Literatur von Grillparzer bis Rilke, von den Menschen der vorklassischen Epochen ganz abgesehen, war die soziale Bedingtheit des Einzelmenschen, die Bejahung der Pflichten des Menschen gegenüber den sozialen Gemeinschaften kein Problem. Der Übermensch ist dem Österreicher ebenso eine unsympatische, lebensferne Konstruktion und ein völlig unbrauchbarer Begriff sozialen Denkens wie der Massenmensch. Das Naturgemäße, das Maßvolle, aber Formvollendete im Sinne einer inneren organischen Formung — das ist das bleibende Charakteristikum für die stets herrschende Tendenz österreichischen Denkens und Fühlens im Künstlerischen, im Sozialen, im Staatlichen.

So selbstverständlich Franz Grillparzer als der bleibende ragende Gipfelpunkt der österreichischen Literatur gelten muß — er ist neben Goethe und Schiller die größte dichterische Verkörperung deutschsprachig-europäischer Kultur •—, so unfaßbar groß Rilkes lyrisches Gesamtwerk ist, der Dichter, der in unvergleichlicher Schönheit das Wesen des österreichertums und nicht zuletzt den sozialen Kosmos des heimlichen Österreich ahnen und sichtbar werden läßt, ist Adalbert Stifter. Der gläubig den Ordnungen Gottes hingegebene Sohn des Böhmerwaldes Stifter, der in wunderbar schlichten Sätzen von der wahren Größe des kosmischen und des menschlichen Lebens gesprochen hat, die sich in der Gewalt der Naturgesetze ausdrückt, und der die törichte Scheingröße alles dessen sichtbar werden ließ, was menschlichem Unverstand und seelischem Leichtsinn oft als groß erscheinen mag — so etwa die großen Eruptionen des geologischen Daseins, die physiologischen Erschütterungen der Seuchen, die krankhaften Anmaßungen menschlicher Herrschsucht und rnenschlidien Machtwillens, Stifter mit seiner fast' chinesisch anmutenden Liebe zum Kleinen, in der sich ja kein Spießbürgertum, sondern ein tiefes metaphysisches Wissen um die Kleinheit alles Irdischen vor dem Absoluten äußert, ist die feuchtende Gestalt voll stiller Größe, die Sinnbild und Vorbild ist bei den Bemühungen, Österreich, Land und Volk, einzubetten und einzuordnen in den sozialen Kosmos, der gleidisam als eine große gesdiichtlich-übergeschichtliche Idee und Aufgabe vor die““ Menschen hingestellt ist, nicht als eine trügerische Fata Morgana — so sehr man sich ihm vielleicht durch manche Wüste nähern muß.

Und es ist tatsädilich keine Übertreibung, wenn darauf hingewiesen worden ist, daß sich sogar die am feinsten organisierten Ästheten der österreichischen Dichtung in das Gefüge der sozialen Verpflichtungen eingeordnet haben. Wieder möge ein Name genügen, um anzudeuten, was damit gemeint ist: Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter des „Tod des Tizian“ und von „Der Tor und der Tod“, der kultivierteste Repräsentant des Wiener fin de siecle, der Erbe der aristokratisch-monarchisdien Kultur Altösterreichs, gibt in seinem „Turm“, i seinem letzten Werk, das er vollenden durfte, Österreich, dem deutschen Schrifttum, Europa eine Tragödie, in der aller dünkelhafte Stolz des Menschen zerbricht an der großen Einsicht und Demut in die ewigen Maße.

Welch köstlicher Reichtum aber an Dichtern und Denkern der sozialen Gefüge neben den Großen, die gleichsam den übernationalen, gesamteuropäisdien Rang des österreichischen Schrifttums bestimmen. Die Komödie von Raimund bis Anzengruber, die österreichische Novelle, die in .Ferdinand von , Saar, J. J. David und Maria ! von Ebne'r-Eschenbach etwa;—.um .auch-hier nur einige Namen zu nennen — Gestalter von überragendem künstlerischen Vermögen gefunden hat, die österreichische Lyrik, die immer wieder das schlichte Ringen um dfs Finden des Du sichtbar werden läßt — überall begegnet uns.eine naive soziale Weltoffenheit, eine Selbstverständlichkeit des sozialen Instinkts, die den Glauben an eine besondere Fähigkeit des österreichischen Volkes, soziale Aufgaben und Schwierigkeiten zu meistern, wach werden läßt. Und dieser Glaube wird vertieft durch die Einsichten, die man beim Studium der sozialen Bewegungen gewinnt, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa in Wien vor allem, aber darüber hinaus in ganz Österreich das öffentliche Leben tiefgreifend beeinflußten und ein umfangreiches Schrifttum entstehen ließen, das vielfach noch seiner Würdigung, ja seiner Entdeckung harrt. Nicht zuletzt kann gerade die katholisch-soziale Bewegung auf österreichischem Boden auf stolze Traditionen hinweisen. Wir verlassen hier freilich vielfach den Boden der Dichtung, um uns der Deutung eines Schrifttums zuzuwenden, das weniger ästhetisch, als kulturgeschichtlich zu werten ist. Aber gerade darin liegt der eigentümliche Reiz einer jeden ernsten Beschäftigung mit dem österreichischen Schrifttum der letzten hundert Jahre, daß sie so viele Erkenntnisse in moralischer; sozialer, politischer, mit einem Wort in allgemein kultureller Hinsicht gestattet, und vor allem läßt uns das Studium des sozialen Schrifttums und der sozialen Bewegungen Österreichs eine Fülle von Menschen kennenlernen deren Dasein und Leben gleichsam Kunstwerke, vollendete oder unvollendete, darstellen. Man denke hier nur. an Gestalten wie Ferdinand Kürnberger, Freiherr von Vogelsang, Engelbert Pernerstorfer und Bürgermeister Lueger, an die bedeutenden Nationalökonomen und Soziologen der Wiener Hochschule, an den ganzen reichen, noch vielfach ungehobenen Schatz österreichischer Memoirenliteratur. Was man bisher von der Geschichte, der reichen inneren Geschichte Österreichs, kennengelernt hat, ist sehr wenig; wenig durch die Schuld der Österreicher. Vielleicht mußte Österreich erst durch tiefes Leid und durch schwere Krisen hindurchschreiten, um die Nötigung zu spüren, seine eigenen Quellen aufzusuchen. Ein ungeheuer großes Feld der Forschung breitet sich vor uns aus, Menschen und Mächte, Strömungen und Ideen harren ihrer Verlebendigung, Österreich will wiedergeboren werden in seinen Söhnen von heute.

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