6534265-1946_07_14.jpg
Digital In Arbeit

Der Blutsee

Werbung
Werbung
Werbung

Das Dorf ruht im Mittag. Doch wenige hundert Schritt über ihm rauscht nie endendes Leben im grünen Gewipfel. Ächzend fährt der Bergwind über den steinigen Hang. Er strählt das steife Grashaar. Er striegelt das struppige Strauchzeug. Er singt seinen dunklen, geheimnisvollen Sang, und das Tal zu Füßen der Höhen lauscht ihm atemlos wie ein Kind dem geschichtenerzählenden Ahn. Er wüßte viel Wundersames zu sagen, dem, der seine Sprache verstünde. Er war schon zur Zeit, da längst geschmolzenes Gletschereis/' das Gesicht von Berg und Niederung formte. Er wird noch sein, wenn der granitene Fels unter Sonne und Frost zerbröckelt wie morschgewordenes Gebein.

Er raunt sein Lied, er regt die mächtigen Schwingen, der Urvogel Wind.

Aber vor der grünen Senke am Rand der Berglehne faltet er seine Flügel und wird leise. Dort schlägt ein stiller See sein zauberhaftes Auge auf. Dort leuchtet ein blut-farbener Ring im grünen Kranz des Ufergrases. Hell glänzt das Rot aus dem dunklen Seggenwald. So funkelt Rubin, so schimmert Blut.

Was ist dies für ein seltsamer See? Welche Rätsel schlummern in seinen Gründen? In dem seichten, braunen Gewässer, an dessen Gräserrand die kreisenden Schatten der Wassertiere weben, liegt es flammrot hingegossen, wie verströmtes Herzblut so licht und frisch. Ist es ein Gaukelspiel der Sinne? Nein, so offenbar kann kein Trugbild narren! Unverstandenes muß nicht Täuschung sein. Nennen nicht die Leute im Tal das Wasser in der stillen Senke den Blutsee? Sie fragen nicht viel nach Herkunft und Ursprung. Das Sprossen des Korns zu Halm und Ähre, Zeugung und Werden eines neuen Geschöpfs — sind es geringere Geheimnisse als jenes? Der Mensch ist von Wundern umgeben auf Schritt und Tritt.' Er nimmt sie entgegen, als müßten sie so sein. Was man Tag für Tag um sich hat, wird Selbstverständlichkeit,

Der rote See, deA Blutsee — sie wissen ihn so, seit sie denken können. Er war von je, er wird immer sein.

Als eines Tages einer von der Stadt draußen ins Dorf kommt, nach dem See geht und eine Handvoll roten Wassers in ein Glas schöpft, bringt - ein Kind nach Hause, der See sei von Blutalgen so rot. Der Fremde habe es gesagt.

„So“, entgegnet die Bäuerin darauf gleichgültig, als habe sie das in all ihrer \rbet nur halb Gehörte im selben Augenblick als ein Unwichtiges wieder vergessen.

Die alte Kräuter-Trud aber, die in ihrer einsamen Fichtenhütte, im Bergwald verborgen, ein paar hundert Schritt über der Senke wohnt, lacht spöttisch und schier verachtungsvoll auf, als ihr der Ausspruch des Stadtherrn zu Ohren kommt. Sie weiß, welche Bewandtnis es mit dem See hat, der rot ist wie vergossenes Blut, und wer vor ihren , adlerscharfen Augen besteht, dem kündet sie es in heimlichem Flüstern:

„Ist ein heilsames Wassqr gewesen von je. hat Segen getan bei Gebrest und Wunden ...

Ist einmal eine müde Kriegsschar ins Dorf gekommen; ist viel Blut geflossen damalen in der Welt. Meine Urmutter hat ihn noch gesehen, den nächtlichen Zag der Verwundeten hin zum See, und wie der eine sein zerschossenes Bein hineinhielt und der andere seinen zerschlagenen Arm. Ist rot davon worden, der See, und ist rot geblieben. Ist nicht versickert, das Blut, glüht noch immer davon der See, wird nicht auslöschen. Kein Tropfen Blut lischt aus ...“

So weiß es die alte Kräuter-Trud. Und das Wasser in der stillen Senke glänzt und leuchtet Jahr um Jahr wie vergossenes Blut. Das hohe Ufergras umflicht es wie ein immergrüner Kranz. Schilfvögel gleiten schimmerflüglig über die funkelnde Fläche und singen wundersame, nie gehörte Lieder. Der Wind faltet seine Schwingen und raunt nur noch leise im Gebins. Fällt das Schattenbild der wandernden Wolken in den See, dann flutet er schwer und dunkel wie Opferblut, trifft die Sonne den blendenden Spiegel, dann flammt er weithin wie sieghaftes Feuer.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung