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Der Fisch von Vietnam und das „Weichsel wunder“

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In einer der letzten Nummern des „Sztandar Mlodych“, des Organs der kommunistischen Jugend Polens, die bekanntlich von wenig erprobter Linientreue ist und deren individualistisch - bürgerlich - idealistische Abirrungen nur zu oft die Entrüstung der Moskauer Zions-wächter erregt, war am Schluß der Beschreibung eines angeblich in Vietnam lebenden Fisches folgendes zu lesen:

„Am bemerkenswertesten ist aber, daß er gegenüber der roten Farbe sehr empfindlich ist. Es genügt, vor ihm einen roten Fetzen zu bewegen . .. und er wirft sich sofort auf diesen, der als Lockung um eine Angelrute gewickelt ist. Wie ein gereizter Stier gebärdet sich der Fisch und beißt besinnungslos in den Fetzen hinein, völlig seiner eigenen Sicherheit vergessend.“ So ungefähr beginnen sich die polnischen Kirchenfeinde zu benehmen, sobald sie eines bedruckten Papiers ansichtig werden, das christliche Färbung trägt; nur, daß sie dabei ihrer Sicherheit, nämlich der „Bezpieka“, der politischen Polizei, nicht vergessen. Wie zunächst das unvergeßliche Beispiel vom Vorabend des neuen Nationalfeiertags lehrte und was wir nun seit mehr als einem Monat täglich beobachten können.

Ungeachtet der beschwichtigenden Mitteilungen über eine Zusammenkunft der gemischten geistlich-staatlichen Kommission und der erzwungenen Nachgiebigkeit des Episkopats zum Trotz, ist die Lage auf dem religiösen Gebiet weiterhin gespannt. Der mühsam zurückgedrängte Haß der kommunistischen Intelligenz und ihrer sonst mit ihr bitter verfeindeten nichtmarxistischen Gesinnungsgenossen des antiklerikalen Lagers ist hervorgebrochen und kaum einzudämmen. Boshafte Ironie, pathetische Anklage und nicht selten Beschimpfungen kehren sich gegen den zwei Jahre lang geschonten Klerus, besonders die Mönche. Primas und Bischöfe werden bezichtigt, seit der Romfahrt Kardinal Wyszyn-skis im vorigen Frühjahr eine feindliche Haltung gegenüber der Volksdemokratie einzunehmen. Die katholische Hierarchie und die verantwortungsbewußten katholischen Politiker, Publizisten bewahren vorsichtige Zurückhaltung. Doch es darf nicht geleugnet werden, daß es in den Massen der Gläubigen grollt und daß es der höchsten Behutsamkeit bedarf, um unheilvolle Zusammenstöße zu vermeiden.

Den Kirchengegnern, Kommunisten und bürgerlich-radikalen Agnostikern, sind drei Tatsachen ein Greuel, die auch nur im leisesten zu erschüttern sie nach 14 Jahren Volksdemokratie nicht imstande waren, ja die nur noch stärker hervortreten. „Es ist ein unbestrittenes Faktum“, schreibt der häufig als Sprecher der jetzigen Machthaber geltende angesehene Publizist des „,2.ycie Warszawy“, Korotyilski, in einem heftig den Primas und den Episkopat angreifenden Artikel, „daß in unserem Lande — wie sonst nur in wenigen anderen Staaten und jedenfalls In keinem sozialistischen — die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aus Katholiken besteht, die überlieferungsmäßig an religiöse Anschauungen und Gebräuche anhänglich sind“. Eine jüngst vom Hochschulministerium angeordnete Rundfrage unter den Studenten hat ergeben, daß von diesen — die meist nach strengem Zensus, vorwiegend aus Arbeitersöhnen und dem ländlichen Proletariat, zumal aus parteikommunistischen Kreisen, zugelassen werden — 66 Prozent sich als gläubig bezeichneten, 12 Prozent keine eindeutige Haltung zur Religion besitzen, und von den restlichen 22 Prozent nur 12,5 Prozent sich zu kämpferischer Religionsfeindschaft bekennen. Diese Position, die der Katholizismus in Polen allen Anstürmen zum Trotz behauptet, sehen die kommunistischen Verfechter der schärferen Tonart — von ihrem Standpunkt aus mit Recht — als größtes Hindernis an, um in ihrem Lande den Marxismus wirklich einzuwurzeln.

Den zweiten Stein des Anstoßes erblicken sie in der Macht, die Episkppat und Klerus, gestützt auf die sehr starke Majorität der kirchentreuen Gläubigen, nach wie vor und mehr denn je ausüben. Diese Macht konnte unter gewissen Umständen den jetzigen, an sich toleranten Führern der herrschenden PZPR aus dem Kreise Gomulkas sogar willkommen sein, wenn sie — wie bei den Sejmwahlen 1957 — zugunsten des Regimes eingesetzt wurde. Sowie sich aber, was angesichts der tiefen, beide Partner trennenden weltanschaulichen Kluft und der Bindung auch der am meisten national fühlenden Kommunisten an die Sowjetunion, unvermeidbar war, die ersten Zwistigkeiten zwischen geistlicher und weltlicher Autorität ergaben, brachen bei sämtlichen Kommunisten, die duldsamsten nicht ausgenommen, die alten antikirchlichen Affekte hervor, und alle Religionslosen trachteten, die staatliche Oberhoheit über die Kirche auf das schärfste zu sichern.

Auf der Jasna Göra bei Czfstochowa strömten immer wieder die katholischen Massen zusammen. Keine kommunistische Kundgebung vermochte nur annähernd so viele Teilnehmer auf die Beine zu bringen wie die Monsterwallfahrten an die nationale Pilgerstätte. Jeder Beruf trug sein Schärflein zu dieser ständigen Bekundung der kirchlichen Macht bei: Universitätsprofessoren, Juristen, Aerzte und Lehrer so gut wie Bauern und Arbeiter. Besonders die Anwesenheit der Lehrer hat Aufregung hervorgerufen, die sich in einem vielbemerkten Artikel des Sprachrohrs der Freidenker, „Argu-menty“, äußerte. Die Entrüstung kehrt sich gegen die gesamte Hierarchie und immer leidenschaftlicher gegen den vordem mit ausgesuchter Freundlichkeit behandelten Primas, der mit Nachdruck die Rechte der Kirche verteidigt und auf Erfüllen der ihm seinerzeit gemachten Zusagen beharrt. Als einziger „braver“

Oberhirt wird von den Kommunisten der Breslauer Erzbischof Kominek gelobt, dessen zur Toleranz gegenüber Nichtgläubigen mahnender Hirtenbrief als Gegenstück zum „empörenden“ Verhalten anderer Prälaten erscheint. So erfährt der Gnesener Erzbischof, herb getadelt, weil er Apothekern anrät. Nachfragenden das Vorhandensein empfängnisverhütender Mittel zu leugnen: die Kirche lehrt zu lügen. Die aszetische Zeitschrift „Homo Dei“ entschuldigt Verkäufer, die, um ihre Familie vor dem Aerg-sten zu bewahren, kleine Unterschlagungen begingen, und zwar unter unwiderstehlichem Zwang der üblichen Hungerlöhne: die Kirche lehrt das Stehlen. Es kommt noch schlimmer. Primas und Episokopat benutzen die Tausendjahrfeier der ersten historischen Nachrichten von der Existenz eines polnischen Staates, um an die untrennbare Verbundenheit von Christentum und polnischer Kultur zu mahnen.

In einer Schrift, die von den Wundern der Gottesmutter handelt und die in der Klosterdruckerei auf der Jasna Göra, unter den Auspizien des Primas, gedruckt wurde, ist auch von einem „Wunder“ die Rede, dessen übernatürlichen Charakter selbst der frömmste Katholik ruhig bezweifeln mag, dessen Erwähnung aber auf den wahren Kommunisten und ... auf jeden Russen wirkt wie die rote Farbe a f den eingangs genannten vietnamesischen Fisch: das „Wunder an der Weichsel“ am 15.“ August 1920, als Pilsudskis Heere, nach, dem weisen Rat Marschalls Foch, die bis an die Tore Warschaus vorgedrungene Sowjetarmee schlugen und dadurch die Bolschewisierung Polens um ein Vierteljahrhundert hinausschoben. Am 15. August, dem Tag eines Marienfestes, wandern ferner Hunderttausende jedes Jahr nach dem Nationalheiligtum bei Czgstochowa, und zwar nicht nur aus rein religiösen Motiven. Wir werden begreifen, daß die Veröffentlichung so anstößiger Broschüren, wie die über das „Weichselwunder“ einbegreifenden erbaulichen Geschehnisse, daß das Bestehen derartiges druckender Pressen in durch die Klosterklausur geschützter trügerischer Sicherheit, vor den staatlichen Sicherheitsbehörden und vor den Zensoren untragbar sind.

Das wähnen, oder geben vor zu wähnen, die bedauernswerten Beauftragten der offiziellen Propaganda, die es unter anderem gewagt haben, der in ohnmächtigem Grimm kochenden polnischen Oeffentlichkeit das Echo der Weltmeinung auf die Vorgänge in Czestochowa so darzustellen, als wende sich die allgemeine Entrüstung gegen die herrschsüchtige, aggressive Klerisei (wie das in der Zeitschrift „Swiat i Polska“ vom 17. August geschieht). Vergebens bemüht sich auch der Generalprokurator, der die „Operation“ gegen die bösen Mönche der Jasna Göra leitete, denen und den „berufenen kirchlichen Behörden“, also dem Kardinal und dem Diözesanbischof, „Mangel an Verantwortungsgefühl und staatsbürgerlicher Gesinnung“ anzulasten. Weder diese Bezichtigungen noch die abgepreßte Nachgiebigkeit der Hierarchie — sowohl in der Frage der nun wieder der Staatszensur ausnahmslos unterworfenen kirchlichen Druckereien als auch in der seit vielen Monaten umstrittenen Angelegenheit der Verteilung amerikanischer Spenden (statt allein dem Episkopat, dem sie von den Spendern zugedacht war, wird sie vorwiegend von staatlichen Organen vorgenommen werden) —, nichts kann den Eindruck auslöschen, daß das Kernstück der Errungenschaften des Oktobers 1956, die Harmonie zwischen Staat und Kirche, nach wie vor einer schicksalvollen Belastungsprobe ausgesetzt ist.

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