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Der Philosoph Johann Nestroy

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In den dreißiger bis sechziger Jahren lebte in Wien ein Schauspieler, der durch die hinreißende Komik seiner hageren, windschiefen Figur, seiner endlosen, schlenkernden Gliedmaßen und seiner blechern schnarrenden Zungenschnelligkeit, durch seine schlagenden und geistesgegenwärtigen Extempores und seinen zähen und drolligen Kampf mit der Zensur und schließlich durch eine lange Reihe glücklich zusammengestellter Gelegenheitspossen große und dauernde Popularität genoß. Dies war die eine Hälfte Johann Nestroys, seine äußere Hülle, die die Welt, und zumal die wienerische, so oft und gern lür den ganzen Menschen zu nehmen und ausschließlich gelten zu lassen pflegt. Daneben aber gab es noch einen zweiten Nestroy, einen sokrafischen Dialektiker und kantisch analysierenden Geist von höchster Feinheit und Schärfe, eine shakespearisch ringende Seele, die mit einer wahrhaft kosmischen Phantasie die Maßstäbe aller menschlichen Dinge verzerrte und verrückte, um sie eben dadurch erst in ihren wahren Dimensionen aufleuchten zu lassen. i

Nestroy ist von einer kristallenen Nüchternheit, einer brennenden Luzidität, die die Menschen und Ding förmlich zerleuchtet, und dabei doch voll heimlicher Sehnsucht nach all den verwirrenden, narkotischen Dingen, die das Leben erst begehrenswert und interessant machen; ein starker, wissender und weltkundiger Geist und dabei doch umwitferl von dem Aroma der problematischen Natur. Und darüber hinaus hat er noch den tiefsten Sinn der Barocke ausgedrückt: jene sublime und fatale Fähigkeit, ja Nötigung, mit dem ganzen Leben zu spielen und nichts ernst zu nehmen, auch nicht das eigene Ich.

Dies alles zwingt uns, in Nestroy den größten, ja den einzigen Philosophen zu erblicken, den der deutsch-österreichische Stamm hervorgebracht hat. Ein echter Philosoph auch darin, dar} er kein System besaß. Wo er irgendeine moralische Ungleichung bemerkte, da stellte er sie ans Licht und gab sie Hern Spott preis. Deshalb hat er auch niemals ein politisches Programm gehabt und galt gleichermaßen den Konservativen als bedenklicher Umstürzler wie den Liberalen als finsterer Reaktionär.

Es ist eine seltsame Tragikomödie im Leben Nestroys, daß seine Generation den großen Zeitkriliker und Gesellschaftssatiriker, den sie so dringend nötig hatte, in ihm nicht erkannte und sich bloß an die „Spaßetfeln“, den Scherz und die Ironie, aber nicht an die tiefere Bedeutung hielt. „Soziale Lustspiele sind ein wahrer Schatz für die Bühne“, sagte Laube und beklagte, daß die deutsche Produktion auf diesem Gebiet so viel ärmer sei als die französische, ohne zu bemerken, daß dicht neben ihm ein Dichter lebte, der alljährlich mit der größten Mühelosigkeit soziale Lustspiele produzierte, die die zeitgenössischen französischen an Glanz, Kraft und Natürlichkeif ebensoweit hinter sich ließen wie ein echtes Gemälde einen Dreifarbendruck oder ein lavaspeiender Berg ein Brillantfeuerwerk.

Und über das alles hinaus haf Nestroy in seinen Lustspielen die ganze Luft seiner Zeit eingefangen, einer Zeit, die in ihrer eigenartigen Poesie so nie wiederkehren wird; und damit hat er die höchste Aufgabe des Komödienschreibers erfüllt. Und wenn Goethe gesagt hat, daß Voltaire Frankreich sei, so könnte man mit ebenso großer Berechtigung behaupten, daß Nestroy Wien sei, jenes ewige Wien, wie es war, ist und sein wird: Eine ganze Landschaft mit dem von ihr genährten, entwickelten, zur Reife und zur Ueberreife gebrachten Menschenschlag ist in ihm klingend und leuchtend geworden.

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