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Der verhinderte Samson

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SEIT SAMSON ÄUSSERN SICH, die symbolischen Oppositionskräfte meist in der Haartracht. Das „Andersseih“ als die anderen, der Geist des Widerspruchs, legte stets seine

äußeren Zeichen in überlangen Haarmähnen dar. Der sichtbare Protest gegen den preußisch-militärischen Haarschnitt des soldatischen Gehorsams ließ die Locken der Widersacher wachsen. Die Künstler des ex- und impressionistischen Zeitalters; die „Schlurfs“ der NS-Diktatur, die Hooligans der amerikanischen Jugendslums; die Halbstarken der fünfziger Jahre und schließlich die Gammler unserer jüngsten Gegenwart scheinen alle ihre überschüssigen Protestkräfte in schulterlangen, von Sauberkeit befreiten Haartrachten zu ventilieren. '

Die rastlosen, stets auf Wanderschaft „umherneurotisierenden“ Gammler sind zur Zeiterscheinung geworden.

Diesen, zumindest was ihr Äußeres betrifft, verwahrlosten Jugendlichen, begegnet man heute in fast ganz Europa; sie bummeln — oder „gammeln“ — anscheinend ziel- und arbeitslos durch Städte und • über Landstraßen des Kontinents. Wer zeichnen kann, malt Heiligenfiguren auf Pflastersteine, wer singen kann, begleitet seine Protestsongs selbst auf der Gitarre. Sie sind ungepflegt und rauchen nicht selten Marihuanazigaretten, sie trinken, was die Kehle verträgt, und gebärden sich — protestierenden Verkündern gleich — als Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft mit den wildmessianischen Gesten apokalyptischer Jungreiter.

„Die Gammler, im Gegensatz zu den psychisch Verwahrlosten, führen einfache Protesthandlungen unserer Gesellschaft gegenüber durch“, erklärte der Wiener Psychologe und Leiter der Berufsberatung des Landesarbeitsamtes Wien, Dr. Werner Mann, auf die Frage nach den psychologischen Grundelementen des Gammlerwesens.

DER TREIBSTOFF DER GAMMLEREXZESSE, so Dr. Mann, ist teilweise als Resultat eines falschen Ver-«jelbständigungsprozesses anzusehen.

Junge Menschen suchen immer die „Freiheit“, besser gesagt, was sie darunter verstehen. Ihre Spätpuber-tätsstöße protestieren gegen die familiären Bindungen. Sie streben nach „Freiheit“, nach „mehr Freiheit“', und protestieren.

Wenn neurotische oder psychopathische Züge die einzelnen so schwer belasten, daß sie ihren täglichen Pflichten nicht nachkommen können, entstehen aus ihnen echte „Außenseiter“.

Die „vaterlose Gesellschaft“ (Professor Knol) fordert ihren bitteren Tribut: Kinder wachsen in sogenannten „Halbfamilien“ auf, und aus Vätern, die häufig nur noch Familien-teilernährer sind, werden einfache Mitglieder einer „demokratischen Familie“. Und wie die Autorität aus der Familie entschwand, so besitzt auch unsere bürgerliche Gesellschaft nftr noch schwache Autoritätsattribute.

Diese Familie und diese Gesellschaft stellen kaum mehr halbwegs akzeptable Aggressionsobjekte dar. Hier lohnt es sich nicht mehr, zu „kämpfen“; es fehlen vollends die sozialen und emotionellen Ansätze.

Die Wirtschaftskonjunktur hält trotz mahnender Schwankungen weiter an, und die Wohlstandsgesellschaft ist nach wie vor nicht bereit, ein geeignetes Aggressionsobjekt abzugeben. Also schafft man sich welche.

Aus diesen Protesten entsteht dann die „Gammlerphilosophie“: Die absolute . materielle Freiheit auf

Grund eines gesellschaftlichen Außenseitertums. Diese „Philosophie“ ist im Prinzip jedoch keine, da sie nicht aus der Überlegenheit der Bedürfnislosigkeit entspringt, sondern vielmehr als ein „rationaler Überbau der intellektuellen Gammler“ anzusehen ist, betont Dr. Mann. Sie starten nicht mit der Philosophie eines Diogenes oder Gandhi, sondern schaffen nur, als eine Art Ersatzreligion, ihre eigene Weltanschauung.

AUCH GAMMLER BENÖTIGEN einen entsprechenden Nachwuchs. Da ihre äußere Erscheinung doch keine genügende Selbstwerbung darstellt, greifen ihre Verfechter zu werbewirksamen Mitteln:

Ein Münchner Gerichtsurteil brachte dem Redakteur Siegfried Dinser einen Monat Gefängnis' (mit Bewährung) ein. In seiner — inzwischen eingegangenen — Jugendzeitschrift „Lupo modern“ hatte er vor einem Jahr einen Artikel unter dem Titel „Gammeln ist gesund“ gedruckt, der Meinungen kundtat wie „an Dreck ist noch keiner gestorben“

oder „wer richtig gammelt, hat mehr vom Leben“. Ein westfälischer Bürger nahm Anstoß und erstattete Anzeige, und der Staatsanwalt argumentierte: „Gammeln ist wegen der häufig damit verbundenen erheblichen Milieuschäden ein unerwünschtes Verhalten, es in einer Jugendzeitschrift zu empfehlen, ist schwer jugendgefährdend.“

EINIGEN CHEFGAMMLERN gelang es, die zweifelhafte Rolle eines Ideologen dieser Weltverschmäher zu übernehmen. Zu ihnen gehört ein amerikanischer Student aus Kalifornien, mit dem Nurvornamen „James“, der vor allem im deutschsprachigen Europa gammlerbekannt ist. Er gilt als Lehrmeister der deutschen und österreichischen „Beatniks“, die geistige Unterstützung in einer ferneren, im Grund unbekannten Welt suchen, die sie als „noch frisch“ und von niemandem zitiert in die eigene Gedankenwelt einschmelzen können. Und so fanden auch ostasiatische Gedanken, wie die des Zen-Buddhis-mus, in Österreich ihren Niederschlag.

James erzählt bereitwillig immer wieder die Anekdote des Chinesen und Zen-Buddhisten Liu-Ling, mit der er das nunmehr zweitausend Jahre alte Gammlertwm zu untermauern trachtet. Liu-Ling (221 bis 300 n. Chr.) lebte in einer einsam gelegenen Hütte. Er liebte es, nackt umherzulaufen. Als sich ein Besucher darüber empörte, sagte Liu-Ling: „Ich betrachte die Welt als mein Haus, meine Hütte als meine Hose. Was willst du in meiner Hose?“

Die Tagebuchaufzeichnungen eines Wiener Gammlers, der den Kreisen des „Philosophen“ James angehört, lesen sich etwa so: „Wir tranken Kaffee bei Tschibo, Sibylle, James

und ich. Wir tranken den Kaffee schwarz und ohne Zucker. ,Wir haben', begann James zu dozieren, ,zu viele Wörter, die irreführen. Hört das Wort: Abscheulich. Ist es nicht von ekelerregender Schönheit.' — ,Ja\ schrie Sibylle, daß sich einige Gäste erstaunt umsahen. James zog ein Exemplar von Jack Kerouhcs .Gammler, • Zen und höhe Berge' aus

der Tasche. ,Kerouhcs schreibt', sagte er, .folgendes über den Teegenuß: Der erste Schluck ist Freude, der zweite ist Glückseligkeit, der dritte ist heiterste Gelassenheit, der vierte Wahnsinn und der fünfte Verzük-kung.'“

ZIEL DER GAMMELNDEN INTELLEKTUELLEN, der „Beatniks“, der „Philosophen“ und der schriftstellernden Gammler ist Paris. Hier gründeten sie eine „Beatnik-Universität“ in der Rue de Rennes. Mit einer großen Kuhglocke wurden die Schüler zum ersten Kursus zusammengerufen. Sie kamen in verwaschenen Blue jeans und beschrifteten Hemden und Jacken, kamen mit Gitarren und Mandolinen.

Aguigui, Rektor und einziger „Professor“ dieser „Universität“, hatte sich zu seinem ersten Philoso-phievoitrag vor Gammlern mit einer Smokinghose und einem großen schwarzen Velourshut geschmückt. In der Hand trug er eine Kaffeemühle, auf der Schulter ein Meerschweinchen. Aguigui, der „erste Astronaut des Unterbewußtseins“, wie er von seinen Anhängern genannt wird, bewies wieder, daß der Tonnenbewohner Diogenes der Ur-typ der Beatniks gewesen sei. In der Pause jagte Aguigui die „schlechten Beatniks“ zum Teufel, jene, die auf der Straße bettelten, statt Kreidezeichnungen und Gedichte zu verfertigen. Man füllte die Pause mit Gesang zu Gitarren- und Mandolinen-klängen und deklamierte selbstverfaßte Gedichte.

WIE SEHEN DIE GAMMLER IHRE nichtgammelnde Umwelt? „Jeder von diesen Hammeln, die da vorbeiziehen, hockt jahraus, jahrein in einer stinkenden Bude und kratzt sich mühevoll die Piaster zusammen, um den blödsinnigen Gesellschaftsrummel mitmachen zu können. Dann geht er großzügig ein paar Wochen auf Urlaub und springt dann gleich in die Tretmühle zurück, die er im Grunde seines Herzens haßt. Was ist das für ein Leben?“

Wie leicht und einfach könnte man hier erwidern: Eben im Namen dieser „Hammeln“, die „jahraus, jahrein die Piaster zusammenkratzen“, daß das Leben der heimat- und familienlosen Gammler, die einander alle sehr ähneln, auch nicht viel schöner ist. Und eben in diesem „uniformierten Individualismus“ liegt die eigentliche Farce des Gammlertums. Sie wollen alle anders sein als die anderen, schauen jedoch zum Verwechseln ähnlich aus; sie protestieren gegen alles und sind selbst dabei — nach außen und nach innen — bis zum Exzeß schabionisiert.

ALS ZEITERSCHEINUNG MÜSSEN wir das Gammlerwesen in Kauf nehmen. Eine echte Hilfeleistung kann nur vom Erzieherischen (inner- und außerfämiliär) her geleistet werden. Ein gutes Familienleben ist das wirksamste Mittel gegen solche gesellschaftliche Randerscheinungen wie das Gammlerwesen.

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