6740314-1966_38_20.jpg
Digital In Arbeit

Die Weit der Gammler

Werbung
Werbung
Werbung

SCHLENDERT MAN VOM STEPHANSPLATZ aus die Rotenturm- straße hinunter, zweigt dann beim Lugeck, dort wo das Gutenbergdenkmal steht, rechts ab, durchwandert die Sonnenfelsgasse und biegt dann in die erste Seitengasse, diesmal aber links, ein, so befindet man sich in der Schönlatemgasse.

Kenner der Wiener Lokalgeschichte verbinden den Namen dieser Gasse mit einem Basilisken, der hier einmal in einem Alt-Wiener Haus sein Unwesen getrieben haben soll. An diese Fabel, sein eigenes Spiegelbild ließ den Basilisken bekanntlich zu Tode erschrecken, erinnert heute noch ein Relief über dem Portal des Hauses. Aber aus einem ganz anderen Grund noch verdient das eigenartige, bogenförmig geschwungene Gässchen der Altstadt besonderes Interesse: dort befindet sich das „Cafe Sport“, der internationale Treffpunkt und das Domizil der Gammler.

Auf den ersten Blick präsentiert sich das besagte Kaffeehaus dem unbefangenen Besucher wenig einladend. Ein schwerer Wollvorhang, innen über das einzige Fenster gezogen, ganz wenig Licht dringt durch den gläsernen Oberteil der Eingangstür; nur das schäbig gewordene Holzschild mit der Aufschrift „Cafe Sport“ deutet die Existenz eines Kaffeehauses an.

Ein erster Eindrucks Gegen die Fassade des Cafe Sport nimmt sich das „kleine Cafe in Hernals“ wie ein Nobeletablissement aus ...

Und ein nächster Eindruck: Wer sich hier, abseits vom geschäftigen Trubel der Innenstadt, als Cafėtier etabliert hat, der war schlecht beraten.

Schließlich der dritte Eindruck: Wenn nun aber besagter Cafėtier hier existieren kann — und zweifelsohne kann er das, denn das „Cafe Sport“ besteht schon sehr lange — muß er wohl auf einen ganz speziellen Kundenkreis zählen können.

ICH BETRETE DAS KAFFEEHAUS, schon der.erste Blick bestätigt: Viel Schmutz, viel — sehr sehr viel — Rauch, alkoholgeschwängerte Luft. Und viel Atmosphäre. Ein Billardtisch in der Mitte des Lokales, die Musicbox rechts von der Eingangstür und die statuenhaft ruhende Chefin hinter dem Kassapult scheinen die einzigen unveränderlichen Fixpunkte der stilvollen Kaffeehauskomposition zu sein. Alles andere ist in Bewegung: Sessel, Tische, Publikum, selbst die ältliche Serviererin.

Auf den Holztischen stehen massive, vollgefüllte Aschenbecher und Batterien halbleergetrunkener Bierflaschen.

Der Billardtisch, das bemerkt man bald, erfüllt im Cafe Sport eine Doppelfunktion. Er dient dem Spiel, das ist seine eigentliche Funktion, und er teilt das Publikum in zwei Hälften. Links befinden sich Griechen, Ägypter und Perser, rechts, im ungleich größeren Teil, die „Gammler“. Früher einmal — so versichert mir ein Stammgast —, als noch die Boheme das Cafė Sport frequentierte, sei jede dieser Hälften eine Welt für sich gewesen. Der Einzug der Gammler ließ die Grenzen verschwinden oder doch zumindest fließend ineinander übergehen.

Was ist denn eigentlich ein Gammler? Oberflächlich besehen: ein Jugendlicher zwischen sechzehn und sechsundzwanzig Jahren, langbehaart, Blue-jean-behost und eher unsauber gekleidet. Man trifft ihn in den Vergnügungszentren der konsumkräftigen Großstädte, an attraktiven Sightseeing-Plätzen und auf den Autobahnen an. Den Einheimischen bedeutet sein Anblick größte Peinlichkeit, den Touristen jedoch ein willkommenes Objekt für das Photoalbum. Gammler reisen gern, haben kein festes Zuhause und gehen keiner geregelten Beschäftigung nach. Nach einigen Jahren Vagabundierens wissen sie genau, wo man am besten und billigsten leben kann, wo die Polizei am seltensten gegen ihre Hauptprofession, das Malen auf Straßen — das bringt in der Stunde, wenn es gut geht, bis zu hundertzwanzig Schilling ein, sagte mir ein Gammler —, einschreitet und wo die schönsten Punkte der Welt zu finden sind.

Was sind Gammler nun wirklich? Sind sie Halbstarke, Radaubrüder, Tunichtguts, vielleicht Weltenbumm- ler, Künstler, Intellektuelle oder gar jugendliche Anarchisten?

IN ZAHLREICHEN GESPRÄCHEN mit Gammlern versuchte ich dieser Frage auf den Grund zu gehen. Man darf sie keinem der oben angeführten Typen ausschließlich zurechnen, aber von jedem Typus haben sie ein kleinwenig. Sie sind eben halbstarke, eigenwillige, arbeitsscheue, bisweilen lärmende, anarchistisch denkende, in Künstlerkreisen verkehrende, jugendliche Vagabunden.

Stellvertretend für seine Kumpane, umriß ein deutscher Gammler seine Lebensphilosophie klar und prägnant: saufen, rauchen, nichtstun, manchmal diskutieren und viel reisen.

Ihre soziale Herkunft ist verschieden, ebenso wie die Motive ihres Gammlerdaseins. Teils entstammen sie fleißigen Arbeiterhaushalten, gutbürgerlichen Familien, manchmal sind sie Söhne von Rechtsanwälten und Industriellen. Nie traf ich einen, der seine Eltern den Grenzschichten der Wohlstandsgesellschaft zugerechnet hätte, selten einen Gammler von bäuerlicher Herkunft. Die ausschlaggebenden Beweggründe für ihr „gammeln“ können Flucht vor der elterlichen Autorität, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Furcht vor dem Einrücken zum Militär (besonders deutsche Gammler nannten dies als häufiges Motiv) und innere Unausgeglichenheit sein.

Die gekonnte Sprechtechrpk und die bisweilen geschliffene Sprache der Gammler verrät überdurchschnittliche Bildung, ihre Bildung deutet hartes Bemühen an, und ihr Bemühen wiederum verrät ihren Übereifer, von allem etwas verstehen zu wollen, überall mitreden zu können. Gammler zeigen sehr große Bereitschaft zum Gespräch,

zur offenen Diskussion untereinander und auch mit Dritten. In der Diskussion erweisen sie sich als aufgeschlossene, weltoffene Gespräcns- partner mit unglaublich tiefem, intellektuellem Background. Scharf und gezielt kritisieren sie die Symbole der bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft, den Kühlschrank, die Fernsehtruhe, den schnittigen Wagen, den abgezirkelten Haarschnitt und die peinlich saubere Kleidung.

Gammler sind stille Rebellen aus vielen Gründen, sie sind nicht organisiert, sondern individuell differenziert, sie konnten oder wollten nach dem Ende der Pubertät nicht übergangslos in die konform gedrillte bürgerliche Gesellschaft eintreten. Sie sind sich ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt und sie beschränken diese nicht auf die Zeit nach Dienstschluß. Das unterscheidet sie von den Halbstarken. Ihre Handlungen gehen nicht immer mit den Bestimmungen des Gesetzbuches konform, aber sie lehnen Brutalität und Gewalt ab, sie stehlen zuweilen, aber das ohne System und nur das Nötigste, das man so zum Leben braucht. Das unterscheidet sie vom kriminellen Tunichtgut.

BESONDERE BEACHTUNG VERDIENT das Verhältnis der Gammler zur Kunst. Da nur sehr wenige über die nötigen handwerklichen Voraussetzungen verfügen, muß dieses Verhältnis von vornherein sehr platonisch bleiben, nichtsdestoweniger aber ist es vorhanden. Deutsche Gammler berufen sich vorzugsweise auf Bert Brecht und Walter Mehring, österreichische Gammler auf Fritz Hundertwasser, der ja auch einst, ehe ihm Ruhm und Anerkennung zuteil wurden, durch die Welt „gegam- melt“ ist, und auf Erich Brauer, den profilierten Vertreter der „Wiener Schule“. Amerikanische Gammler verweisen auf den Seniorkollegen Henry Miller und auf die Beatniks Allan Ginsberg und Gregory Corsa. Alle zusammen betrachten den Edelgammler längst vergangener Tage, Franęois Villon, als ihren Stammvater. Auswendig rezitieren sie Gedichte von Rimbaud und Baudelaire, stellenweise zitieren sie aus Jean Paul Sartres „L’ėtre et le Nėant“, Bert Brechts „Dreigroschenoper“ lehnen sie ab, seinen „Kaukasischen Kreidekreis“ und seinen „Baal“ loben sie in den höchsten Tönen, die gesellschaftlichen Eskapaden der Frangoise Sagan bejahen sie, bewundern sie, ihre Werke selbst finden sie dumm und nichtssagend.

Mit den Beatles und den Rolling Stones verbindet sie die Haartracht, ihre Musik wurde ihnen aber im selben Augenblick fremd, da sie sich in breiten Kreisen der Bevölkerung durchzusetzen vermochte. Man kann daraus eine weitere Eigentümlichkeit im Verhalten der Gammler ablesen: Sie bekennen sich so lange zu einem bestimmten Stil, der dann ganz der ihre ist, bis er sich durchgesetzt hat. Ist dies aber einmal geschehen, so springen sie einfach ab. Denn die Gammler gab es schon, bevor es noch die Beatles, die Rolling Stones, die Minks und die Sear- chers gab. All diese Beatgruppen verdanken ihren durchschlagenden Erfolg den Gammlern, für welche diese Musik auch ursprünglich gedacht war. Inzwischen sind die Gammler auf die Musik der „Grünen Welle“ umgestiegen; sie engagieren sich in ihren Liedern gegen Amerikas Vietnampolitik, gegen das Frankreich de Gaulles und gegen die Atombombe. Bob Dylan, Peter Seeger, Bufy Sainte Marie und der Franzose Hervė Villars, das sind die neuen Gammlerstars.

WAS GAMMLER ABER am nachdrücklichsten von ihren jugendlichen Altersgenossen unterscheidet, ist die Ablehnung materieller Güter. Der Wert ihres Vermögens übersteigt nur in den seltensten Fälleji den Wert der Kleidung, die sie tragen, den Wert des Seesacks und der darin befindlichen unbedingten Notwendigkeiten, wie Zahnbürste, Schlafsack, bunte Kreiden — ihr Werkzeug beim Straßenbemalen — und ein paar Zigaretten. Das bißchen Geld, das sie besitzen, reicht gerade noch für den Besuch der nächsten Kneipe. Gammler sagen, daß Eigentum für sie keinen Anreiz darstelle. Und haben sie beim Straßensammeln einmal über dem Durchschnitt verdient, so teilen sie den Verdienst mit ihren Kollegen, leisten sich etwas bessere Zigaretten oder trinken noch größere Mengen Alkohol als sonst. Routinierte, abgebrühte Gammler investieren ihr Geld dann vielleicht noch in den Konsum Von Rauschgift.

Des Gammlers Alltag währt von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr nachts. Tags reisen sie per Autostop in die nächste Stadt, nachts besuchen sie ihre Lokale, wo sie so ganz unter sich sind.

Gammlermetropole ist nach wie vor Paris, aber München ist drauf und dran, der französischen Hauptstadt den Rang abzulaufen. Rings um den Frank-Wedekind-Brunnen im Münchner Stadtteil Schwabing sitzen, sonnen, malen und diskutieren die Gammler. Ihr Berliner Stammplatz waren die Stufen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis- kirche, solange, bis sie zum öffentlichen Ärgernis wurden. Seitdem mahnt eiin Schild: „Wir bitten um Verständnis für folgende Anweisung: Besonderer Vorkommnisse wegen ist das Sitzen auf den Podesten und auf Blumeneinfassungen nicht erlaubt!"

WIEN LIEGT ABSEITS der Welt der Gammler. Von hier aus kann man nicht mehr weiter„stoppen“, nichts bleibt übrig, als wieder umzukehren. Die Wiener, so urteilen sie, wären in ihrer Denkensweise viel zu provinziell, als daß sie den Gammlern das nötige Verständnis entgegenbrächten. Sie begaffen die Straßenmalereien, schütteln dann den Kopf und gehen weiter, ohne auch nur ein paar Schillinge zu haben. So fährt man nach Wien einfach nur deshalb, um einmal dortgewesen zu sein, um das „Cafe Sport“ besucht zu haben, das in Gammlerkreisen allerdings einen hervorragenden Ruf genießt.

Da die Existenz eines Gammlers nicht lebensfüllend sein kann, stellt sich die unvermeidliche Frage, ob und wie Gammler wieder ins bürgerliche Leben zurückfinden. Gammler meinen, daß ihre Beschäftigung, das Nichtstun, ein Durchgangsstadium sei, das Ende, sobald man heiratet, für Kinder zu sorgen und damit eine gesellschaftliche Verpflichtung übernommen habe. In Gesprächen wurden mir einige Beispiele angegeben, wo Gammler, allem Nonkonformismus zum Trotz, als Hilfsarbeiter, als Handwerker, als Gebrauchsgraphiker, als Journalisten und als — Künstler sich assimilierten, in der pluralistischen Gesellschaft unserer Zeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung