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Der Zauberer aus dem Fichtelgebirge

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WERKE. Von Jean Pani. Bände I und II. Carl-Hanser-Verlag, München. 1354 und 1165 Seiten. Subskriptionspreise 29.50 un - 24 DM, Einzelpreise 35 und 27 DM.

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WERKE. Von Jean Pani. Bände I und II. Carl-Hanser-Verlag, München. 1354 und 1165 Seiten. Subskriptionspreise 29.50 un - 24 DM, Einzelpreise 35 und 27 DM.

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Wenn man die Personen des großen Gemäldes der klassischen Zeit überblickt, dem Bilde eines Niederländers gleich, dessen Gestaltenreichtum und Handlungsvielfalt auf den ersten Blick verwirrt, so soll man im Hintergrund jenen merkwürdigen Mann nicht übersehen, der, wie Lenau oder Grün, mit seinem Decknamen Jean Paul viel geläufiger ist als mit dem richtigen, nämlich Johann Paul Friedrich Richter. Und wie es nun einmal der schnellfließenden Zeit beliebt, haben die Tageswolken das Gestirn verdunkelt; Jean Paul ereilte früher das Geschick Adalbert Stifters, zu dem viele Beziehungen formaler und ideenmäßiger Art hinführen, Jean Paul aber hat noch keine glückliche Einsicht, keine Fügung des Schicksals aus der wolkenumhangenen Höhe länger als auf die Augenblicke etlicher Erzählungen der Erde nähergebracht, die er so geliebt, die er mit so viel Wundern ausgestattet hat.

Die „Xenien” Goethes und Schillers haben den Dichter aus Wunsiedel im Fichtelgebirge, der vor nahezu 200 Jahren geboren wurde, mit einem anderen Schreiber verglichen und gemeint, wenn Jean Paul seinen Reichtum nur halb so zu Rate hielte wie der andere seine Armut, wäre Jean Paul der Bewunderung wert. Nun, es ist bekannt und es ist oft beklagt worden, daß den Größen jener Zeit oft merkwürdig der Blick verengt war, daß sich das JJiftaLa eig MtaH en.lAtoernm-

geif — mfflr ‘zuletzr frtüftder Hrf lütt- verbog. Den Reichtum, von dem in H Xenien die Rede ist, zu Rate zu halten, ihn sozusagen einzudosen, auf Flaschen abzuziehen, um etwa trockenere Jahre zu überdauern, das hat Jean Paul nicht vermocht. Wer das von ihm verlangte, hat ebenso Widersinniges erdacht wie jene Superweisen, die Stifter seine Kleinmalerei vorzuwerfen nicht müde wurden.

Hier scheiden sich die Wege. Wer im Kleinen nicht das Große, in der überquellenden Fülle (bei Jean Paul) die Grundidee, also in einem reichinstrumentierten Stück nicht die Themen zu erkennen vermag, dem ist die Welt der Jean Paul, Stifter, Gotthelf und Raabe verloren.

Vollends zu einer Zeit, die so humorlos geraten ist, wie die unsere. Jean Paul war das größte humoristische Talent, das der deutschen Literatur erschienen ist, an Swift und an Sterne, wohl auch an Hippel, an Rousseau und Voltaire gebildet. Wenn man ihm nachsagt, er habe eigentlich keine Entwicklung gehabt, so ist das gleiche auch Raabe, ist das gleiche auch Stifter, selbst Storm vorgeworfen worden, von Saar ganz zu schweigen. 1st Entwicklung in dem Sinne des Lebensablaufes der Horizontalen alles, muß nicht ebenso auch die Vertikale einbezogen werden? In dem Sinne eines Sichverbreiterns, Sichaneignens, in dem Sinne des Stromes begriffen — wäre das für Jean Paul genügend? Das Uferdickicht, das Schilf, das angeschwemmte Holz, die vorjährigen Blätter, die Sträucher und Vogelnester darin, die ins Wasser hängenden Weidenzweige, der glucksende, von tausendfachem Leben erfüllte Auwald: ja. gewiß, das gehört zum Strom, aber — was ist unter den dunklen Fluten? Regt sich dort nicht von den kleinsten Lebewesen, deren Form sich eigentlich uns erst im Mikroskop wirklich enthüllt, bis zu dem bunten, schnellhin- flitzenden Schwimmern und den über Fluten hinschimmernden Flüglem nicht ebenso reiches Leben? 1st tiur der Vogellaut über den Wassern, nicht auch das leise Rollen der Kiesel auf dem Boden des Stromes von der Musik des Lebens ein Teil? Gerade in einer Zeit wie der gegenwärtigen: in einer Zeit, die nur das obenhin mechanisch Wirkende eirizuschätzen gewillt ist, einer Zeit, die nicht die Wasser am dunklen Boden sehen möchte, das man aber geschaut haben muß, um wirklich lächeln zu können: in einer solchen Zeit der inneren Verarmung kommt eine neue Jean-Paul-Ausgabe eben recht.

Es darf bei dieser Gelegenheit daran erinnert werden, daß sich der Verlag mit seinen Dünndruckausgaben der Klassiker überaus verdient um das Werk auch dort gemacht hat, wo es offensichtlich war, daß man kein großes Geschäft tätigen kann. Wir haben, um auf Jean Paul zurückzukommen, die kaum noch im Antiquariat greifbare, zwischen 1826 und 1828 erschienene sechzigbändige Ausgabe; auch die vierunddreißigbändige Edition der sämtlichen Werke, die in dritter Auflage zwischen 1860 und 1862 bei Reimer in Berlin herausgekommen ist, gehört zu den Seltenheiten des Buchhandels; die historisch-kritische Ausgabe, zuletzt in den Händen der Deutschen Akademie der Wissenschaften (1927 bei der Preußischen Akademie durch Behrend begonnen), kann noch nicht als vollständig betrachtet werden. Die Auswahlen mancher Herausgeber — so etwa durch Benz oder Müller — haben mit den Schwierigkeiten des Stoffes schwer zu ringen gehabt. Mit „Blütenlesen” oder „Streiflichtern” aus Jean Paul ist ihm nicht gedient, ganz abgesehen davon, daß selbst Einzelausgaben des „Titan”, des „Siebenkäs” oder der „Unsichtbaren Loge” immer wieder auf den Wunschlisten der Antiquariate auftauchen.

Die Ausgabe der Werke, die eben mit dem ersten und zweiten Band begonnen hat, ist auf sechs Bände veranschlagt; bis zum 200. Geburtstag, 1963, wird die Ausgabe des Hanser-Verlages vollständig sein. Der erste Band, in der Monotype-Fournier- Antiqua auf Persia-Dünndruckpapier gesetzt, in schönes, hellgraues Leinen mit blauen Rückenschildern gebunden, bringt „Die unsichtbare Loge”, diesen sehr zu Unrecht immer wieder vernachlässigten großen Roman auf zwei Ebenen, und „Hesperus”, der bei seinem Erscheinen (1795) einen unerwarteten Erfolg zu verzeichnen hatte (es wurde sogleich eine zweite Auflage nötig). Im zweiten Bande stehen „Siebenkäs” und „Flegeljahre”. Vom erstgenannten Werk hat es gegenwärtig keine ungekürzte, vom zweitgenannten keine kritisch kommentierte Ausgabe gegeben.

Alle Werke — wie auch die in den folgenden Bänden noch anzuzeigenden — werden textlich nach der jeweils letzten Einzelausgabe herausgegeben. Da unter den Romanen zum erstenmal außerhalb der Gesamtausgaben die „Unsichtbare Loge” ungekürzt im ersten Band steht, ist es auch möglich geworden, das „Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal” (auf dem die ganze Wertschätzung Jean Pauls im 19. Jahrhundert aufgebaut hat) dort als Anhang sinnvoll erscheinen zu lassen.

Die Anmerkungen (Band I herausgegeben von Norbert Miller und Walter Hollerer, Band II herausgegeben von Gustav Lohmann) versuchen nicht, Jean Pauls Gedankenfolgen oder die Ausdrucksweise seiner Sprache zu interpretieren, und ebenso verzichten sie mit Recht darauf, die Bausteine (die Blätter des vielzitierten „Zettelkastens”) neben einanderzulegen.

Interpretation, Anmerkung ist vielmehr so verstanden worden: Handreichung bei hohen Stufen, Wegdeutung bei Kreuzungen. Lateinische Zitate sind übersetzt worden, französische nicht, weil angenommen werden darf, daß die Kenntnis des Französischen keiner Nachhilfe bedarf. Da die Registerbände der großen historisch- kritischen Gesamtausgabe noch fehlen, waren die Herausgeber bei ihren Namensund Worterklärungen durchweg auf eigene Forschungen angewiesen: darin steckt ein sehr beachtliches Stück Arbeit. Die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind — der kritischen Ausgabe folgend — dem heutigen Gebrauch angepaßt; die Spracheigentümlichkeiten des Dichters, vor allem der bezeichnende Lautstand, die Tondynamik, die Vokalsymbolik und alle typischen Eigenwilligkeiten Jean Pauls, blieben unangetastet.

Von den kommenden Bänden werden wir jeweils berichten.

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