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Die Welt der zwanziger Jahre

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TAGEBÜCHER 1918-1937. Von Harry Graf Kessler. Herausgegeben von Wolfgang Pfeiffer-Beili. Im Insel-Verlag. 799 Seiten. Preis 38 DM.

Der Untertitel dieses wichtigen Buches — Politik, Kunst und Gesellschaft der zwanziger Jahre — verspricht nicht zuviel. Denn Harry Graf Kessler, geboren 1868, gestorben 1937 in Frankreich, war Diplomat, er war Kunstsammler und als solcher einer der aktivsten Förderer des berühmten französischen Bildhauers Aristide Maillol, er war der Inhaber und Leiter der Cranach-Presse, der wir einige der schönsten deutschen Bücher verdanken, und er hat für Richard Strauss das Szenarium zur „Jo-sephslegende“ geschrieben. Schließlich, was die Gesellschaft betrifft: er gehörte zu ihr und stand in Kontakt zu fast allen bedeutenden Zeitgenossen zwischen London,

Paris und Berlin (das Register am Ende des angezeigten Buches umfaßt mehr als 1200 Eigennamen).

Am interessantesten ist vielleicht Kessler als Produkt und Kritiker der europäischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende. Der Weg des in Ascot, in einem Pariser Internat und auf dem Johanneuni in Hamburg Erzogenen, des eleganten Bonner Studenten und Cardeulanen (der übrigens immer wieder als ein natürlicher Sohn Kaiser Wilhelms I. bezeichnet wird) zum linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie, dieser Weg de „roten Grafen“ ist ebenso merkwürdig wie fesselnd.

Wer freilich Kesslers glänzend geschriebenes Erinnerungsbuch „Gesichter und Zeiten“ kennt, das 1935 (leider unvollständig, mit nur einem ersten Band) im S.-Fischer-Verlag erschienen ist, wird auf vieles, was ihn hier in den Tagebüchern erwartet, einigermaßen vorbereitet sein. Der empfängliche, sensitive und intelligente Junge lernt die Elendsviertel von London kennen, und bald darauf die von Hamburg, er erkennt das Irreale, Scheinhafte der Gesellschaft, der er entstammt und in der er sich bewegt, und er hegt für Bismarck bereits als junger Mensch eine hellsichtige Haßliebe, während er für Wilhelm II. von jeher nur Verachtung empfand. Wie er überhaupt alles „Wilhelminische“ radikal ablehnte (S. 387: „Die tiefste Qualität des Wilhelminischen — die Wurzel der Katastrophe —, den Mangel an Augenmaß und Bescheidenheit — Selbsterkenntnis —, keine Religion, kein Gefühl für die eigene Stellung im AH. Daß die Welt diesen Typus ausgebrochen hat, ist nur die Folge davon, daß dieser Typus radikal unfähig war, sich in die Welt einzupassen ...“).

Es ist keineswegs nötig, für diesen gesellschaftlichen „Absprung“ die Tatsache ins Treffen zu führen, daß Kesslers Vater erst 1879 geadelt und 1881 in den Grafen-Stand erhoben worden war. Harry Kessler, der reiche Bankierssohn mit der legendär schönen irischen Mutter, die der letzte Schwärm des alten Kaisers war, hätte auch unter anderen Umständen alle Türen, durch die er einzutreten wünschte, geöffnet gefunden. Es ist auch kaum statthaft, einen so universell gebildeten Mann, der auf dem Gebiet der bildenden Künste wirklich kompetent war, kurzerhand als Snob abzutun. Und Kesslers „politischer Ehrgeiz“? Während es doch im allgemeinen so ist, daß man in der Politik durch Macht zu Geld kommt, hat Kessler diesem seinem „Hobby“ im Dienste des Vaterlandes ein Vermögen geopfert, und zwar ein beträchtliches ...

Die Tagebücher beginnen 1918, zu einer Zeit, als Deutschland ein Chaos war, in dessen brodelndem Zentrum, Berlin, Kessler sich zu orientieren versucht und den Entschluß faßt, sich dem neuen, in Bildung begriffenen Staat und seiner Regierung zur Verfügung zu stellen. Seine erste Tat ist die Befreiung Pilsudskis, dessen Abtransport nach Warschau er durchsetzt, in der Erkenntnis, daß an Deutschlands Ostgrenze stabile Verhältnisse geschaffen werden müssen, womöglich die Freundschaft des polnischen Volkes zu erringen sei, zumal mit Frankreich in jenen ersten Nachkriegsjahren nicht zu reden war. Kessler läßt sich als deutscher Gesandter nach Warschau schicken: die Rückführung der deutschen Truppen aus der Ukraine ist

seine Hauptsorge. Er kann diese Mission, an der ein anderer wahrscheinlich noch kläglicher gescheitert wäre, nur zum Teil erfüllen und muß Warschau unter Lebensgefahr fluchtartig verlassen.

Damals mag Kessler erkannt haben, daß in jenem von Haß geschüttelten Nachkriegseuropa mit den alten diplomatischen Methoden nichts mehr auszurichten ist. Und so faßt er — im Gegensatz zu dem Völkerbund der Entente — einen anderen, Plan: er will versuchen, die großen internationalen Verbände, wie Arbeiterinternationale, Verkehrs- und Rohstoffverbände, die großen Religionsgemeinschaften einschließlich der Zionisten, Assoziationen

wissenschaftlicher und humanitärer Art sowie die internationalen Bankinstitute, zusammenzuschließen: als ein natürliches Organ zur Regelung der Kriegsschulden und zum Wiederaufbau des Verwüsteten. Für diese Idee wirbt er durch Schrift und öffentliche Reden: im Berliner Lustgarten und in Bierlokalen auf dem Land. Was Wunder, wenn er jeden seiner Erfolge wohlgefällig registriert und sich gegen die Verfälschung seiner Idee zur Wehr setzt. Persönliche Eitelkeit? Vielleicht auch das. Aber Kessler hatte den Ernst und die Chance der Stande erkannt: überall erhob die blutige Reaktion ihr Haupt, die politischen Morde häufen sich, erst Liebknecht und Rosa Luxemburg, dann Eisner und Rathenau, zu dem Kessler zunächst kritisch eingestellt ist (er findet ihn zu national und zu romantisch, wie die meisten deutschen intellektuellen Juden), dessen Freund und Biograph er aber später wird.

Oberhaupt ist Kessler von staunenswerter Vorurteilslosigkeit und groß im Revidieren und Zurücknehmen eigener Verdikte. (Man vergleiche etwa seine vernichtende Charakterisierung Wirths, S. 295/296, mit einem durchaus positiven Urteil, S. 3240 Auf diesem Gebiet, was Personen betrifft, wurde Kessler oft von augenblicklichen Impulsen geleitet, und

wir finden in diesen Tagebüchern oft Grausames, ja geradezu Ungeheuerliches, neben — natürlich — auch vielem Amüsanten. Aber man muß bedenken, daß Kessler seine Tagebücher in dieser Form wohl nie veröffentlicht, sondern sie wahrscheinlich als Grundlage zu einem oder mehreren Memoirenbänden benützt hätte.

Seine politische Klarsicht verließ ihn keinen Augenblick. Dem Bürgertum gab er keine Chance, vom Nationalsozialismus wollte er nichts wissen. (1930: „Der NS ist eine Fiebererscheinung des sterbenden kleinen deutschen Mittelstandes; dieser Giftstoff seiner Krankheit kann aber Deutschland und Europa auf Jahrzehnte hin verelenden. Zu retten ist diese Klasse nicht; sie kann aber ungeheures neues Elend über Europa bringen in ihrem Todeskampf.“ Und: „Hindenburg ist gewählt. Was folgen wird, dürfte eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein.“)

Fast wundert man sich, daß Kessler, so leidenschaftlich und aktiv in der Politik engagiert (er begleitete 1922 die deutsche

Delegation unter Wirth und Rathenau nach Genua und befürwortete den Rapallo-Ver-trag), auch noch Zeit fand für Literatur und Theater, Musik und. bildende Kunst sowie für seine bibliophilen Drucke. Aber eigentlich war ja dies seine Welt. Und so kommt der an diesen Dingen interessierte Leser voll und ganz auf seine Rechnung. Da gibt es Aufzeichnungen über Begegnungen und Gespräche mit d'Annunzio und Josephine Baker, mit Einstein, Gide und Valery, mit Hofmannsthal, Vollmoeller und den Brüdern Mann, mit Gerhart Hauptmann und J. R. Becher, mit Liebermann und der Frau Förster-Nietzsche (einige besonders groteske Kapitel!), neben unvergeßlichen, wie von George Grosz gezeichneten Porträts von Barthou und Lloyd George, Noske und Nuschke, Stresemann, Brüning und Papen, Churchill und Tschi-tscherin.

Ein hochinteressantes, kaum auszuschöpfendes Buch, für das man dem Verlag aufrichtig danken muß. Er wird mit dieser Publikation vermutlich auch seine Sorgen haben. Zwar sind die meisten der Opfer von Kesslers spitzer und glänzender Feder schon tot, aber da gibt es Angehörige und Nachkommen, die kaum mit allem, was sie in Kesslers Tagebüchern finden, eine reine Freude haben dürften...

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