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Ein böhmisches Buch

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Man hat das böhmische Dreieck die Herzkammer Europas genannt, zuweilen auch das Erdbebenzentrum, den Unruheherd, das schwache bergende Gefäß, in dem seit Jahrhunderten eine Mischung hochexplosiver Art brodelt, zusammengesetzt aus den verschiedensten Elementen nationaler, religiöser, kultureller, sozialer Herkunft. Und so wurde unversehens jede Beschreibung, jede Beschwörung böhmischer Wirklichkeit immer wieder Zeugenschaft, Parteinahme mit Für oder Wider. Ganz abgesehen von der politisch-polemischen Literatur, die diese scharfe Konturierung aufweist, ist dies auch im rein Dichterischen als eine (zwar oft geniale) Einseitigkeit erkennbar. Es gibt in neuerer Zeit kaum ein literarisches Werk, das, aus der Mitte Böhmens heraus entstanden, dieser Mittelfunktion auch treu bleibt. Es sei denn, wir gehen bis zum „Witiko“ zurück. Natürlich ist auch die andere Darstellungsweise möglich: die von außen kommende, rein natürlich distanzierte des Beobachters und Reporters. Vor ihr aber verschließt sich die geistige Landschaft Böhmens in herber Weise, so daß als ihre Spur fast jmmer nur die äußere Hülle oder ein höchst subjektives Traumbild des frei interpretierenden Autors, wenn nicht gar nur die banale Oberflächlichkeit der „Knödel und Mohnblumen“ allein zurückbleibt. Der Novellenband Johannes U r z i d i 1 s stellt in dieser Hinsicht eine rühmens- und liebenswerte Ausnahme dar. Sein Titel sagt das Cin der Schlußerzählung näher definierte) Verhältnis des Dichters zur böhmischen Wirklichkeit an. Sie wird zur verlorenen Geliebten. Geliebt mit der unvermeidlichen Subjektivität und Voreingenommenheit dessen, der von allem Anfang an bis in die heutigen Tage des fast zwei Jahrzehnte dauernden Exils hinein nie zum neutralen, distanzierten, pharisäisch zensierenden Beobachter werden konnte. Verloren aber ist mit der vollziehbaren Aktualität dieser Liebesbeziehung zugleich die eifernde Ungerechtigkeit dessen, der mitten in der Situation gefangen ist. Ein Gebundensein also, das als Gebundensein erkannt, erlebt, durchlitten und so auf einer höheren Ebene zur heiter-gelösten Freiheit geworden ist. In diesem tränenreinen, dunkel grundierten Spiegel werden die Bilder jenes Böhmen sichtbar, die durch kein Prisma des Einseitigen mehr verzerrt sind, ihre leuchtkräftige Farbe aber dennoch nicht verloren haben. Die Lebenslinie des Dichters, seine Jugend, die die Elemente des städtischen Gymnasiums und Literatencafes mit der Traumverfallenheit Stifterscher Böhmerwaldlandschaft — also grell Bewußtes, Intellektuelles, mit fast Somnambulem — als prägende Form vereinte, mündet wie von selbst in die Strombahn des Moldaulandes. Die Uferlandschaften werden sichtbar, gespenstisch erleuchtete Wälder und halb verfallene Schlösser, die schwermütige Streitverfallen-heit friedlich scheinender Dörfer und dann schließlich die „Goldene Stadt“, ihre Nachtcafes und franzisko-josefinischen Amtsstuben, Stammtische, Gymnasialklassen, Parks und Straßenlabyrinthe. Lebensbach und Landesstrom münden in die reißende Ehge der Existenznot und gewaltsamen Bedrohung in den Unheilstagen der hereinbrechenden Hitler-Herrschaft. Aber auch jetzt verläßt den Erzähler nicht der dem Schmerz offen bereite Gleichmut. In der vorletzten Novelle „Ein letzter Dienst“ fallen die Schatten der nach dem Menschen greifenden Angst, die das Wesen der Diktatur ausmacht, breit auf alle Farben der Landschaft. Aber was im Aeußeren nicht mehr sichtbar ist, wird aus dem Inneren der Menschen heraus beschworen: Böhmen lebt in den ärmsten seiner Söhne weiter. In der letzten Erzählung „Die Fremden“ ist die böhmische Landschaft verlassen, der Strom ist ins Meer eingemündet. Von der keltisch-britischen Insellandschaft her, zu der nur verworrener Schlachtlärm des zweiten Weltkrieges brandet, werden die Konturen erneut sichtbar, trotz allem, was kam, unzerstört, „aufgehoben“ im geheimnisvollen Sinn. Ein Buch des hohen Herbstes, ein Wald der Erinnerung, dessen Blätter nicht mehr grünen, aber dennoch nicht von Haß und Bitterkeit dürr und fahl geworden sind, sondern in unwirklich reichen, rötlichen Farben dem Sommer nachglühen. Friedrich Abendroth

Die Träumer und andere seltsame Erzählungen.

Von Tania B 1 i x e n. Uebersetzt von W. E. S ü s-kind, R. Scholz und Martin Lang. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 343 Seiten. Preis 14.80 DM.

Unter dem Pseudonym Isak Dinesen veröffentlichte seinerzeit die Dänin Tania Blixen ihr erstes Buch „Seven Gothic Tales“, das in der literarischen Welt viel von sich reden machte. Andere Werke folgten. Sie ist auch die Verfasserin des bekannten vortrefflichen Buches „Afrika — dunkel lockende Welt“ (ebenfalls in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen). Der vorliegende Band enthält sieben wirklich „seltsame“ Erzählungen von ungewöhnlichen Menschen und Begebenheiten. Sie gehören somit einer literarischen Gattung von alter Tradition an, haben aber nichts Epigonisches an sich, sondern zeigen eine fesselnde Eigenart. Tania Blixen verschmilzt Romantik und Realismus, das Unheimliche und das Komische, Poesie und Groteske. Immer verrät sie eine feine Kenntnis der menschlichen Seele. Oft leuchtet echter Humor auf Manchmal allerdings geht ihre Fabulierfreude zu weit und löst die klare Form auf, wie etwa in der längsten Geschichte „Die Träumer“ oder in der „Sintflut von Norderney“. Hier denkt man an manche Erzähler der deutschen Romantik. Diese Geschichten haben Stimmung und Atmosphäre — vor allem „Der Dichter“ — und wirken besonders durch reizvoll dargebotene Einzelheiten.

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