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Ein Buch erregt Deutschland

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DIE GRENZEN DES WUNDERS. Ein Bericht über Deutschland. Von William S. Schlamm. Europa- Verlag AG., Zürich. 256 Seiten

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DIE GRENZEN DES WUNDERS. Ein Bericht über Deutschland. Von William S. Schlamm. Europa- Verlag AG., Zürich. 256 Seiten

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Das Ungeheuer von Loch Ness blieb in diesem Jahr unter Wasser. Dem politischen Schriftsteller William S. Schlamm — „Oesterreicher von Geburt, Amerikaner aus Entscheidung“ S. 5 — danken es die Zeitungen und Zeitschriften der Deutschen Bundesrepublik, daß es im vergangenen Sommer für sie keine Sauregurkenzeit gab. Buchkritiken machten den Anfang, bald wechselte das Thema in den politischen Teil. Und wieder gar nicht lange, da begannen sich die Federn der Leitartikler in Bewegung zu setzen. Großreportagen über den Autor und Interviews mit ihm folgten. Zahlreiche Leserbriefe rundeten das Bild.

Was war geschehen?

Als die Bundesbürger gerade ihre Urlaubspläne Schmiedeten und Ueberlegungen anstellten, ob es wieder nach Mallorca gehen sollte oder ob man es nicht lieber einmal mit den Kanarischen Inseln versuchen sollte, erschien im Züricher Europa-Verlag ein Buch, das geeignet war, ernsteren Gemütern alle Urlaubsfreuden zu verderben. Wenn es dem in Przemysl geborenen und in seiner Jugend führend in der KPOe tätigen Autor, der sich heute als US- Konservativer vorstellt, darum gegangen ist, die deutsche Oeffentlichkeit zu schokieren und zu provozieren,. dann ist ihm dies vollauf gelungen. Dieser Erfolg dürfte allerdings auch der einzige sein, den der Schriftsteller, Schlamm für die von ihm propagierten Ideen buchen kann.

Was will William S. Schlamm?

Das Kernstück von seinem Buch, das die Frucht eines einjährigen Aufenthaltes in der Deutschen Bundesrepublik ist und das, wie auch seine schärfsten und unerbittlichsten Kritiker gerne zugestehen, manche gute Beobachtungen und scharfzüngige, geistreiche Formulierungen enthält, ist die These, daß allein die Bereitschaft und das bewußt eingegangene Risiko, einen Krieg mit der Sowjetunion zu führen, Deutschland auf längere Sicht vor seiner Einbeziehung in die Sowjethemisphäre bewahren kann. Voraussetzung dazu sei eine Art „Stahlpakt“, eine Achse Washington-Bonn, um die sich nolens volens alle anderen europäischen Mächte sittsam zu gruppieren hätten. Ostdeutschland sei als ein integrer Bestand der Bundesrepublik zu betrachten, jenen Ostdeutschen, die Waffen wünschten, dürften diese nicht vorenthalten werden. Selbst auf die Gefahr.

Einen Kummer nur hat Schlamm bei der Entfaltung seines Konzepfs, an dem gemessen dir- vefi' storbene Staatssekretär Dulles als ein rückgratloser „Appeaser“ und Eisenhower gar als ein rosaroter „Fellow traveller“ erscheinen; diese Deutschen wollen bei dem Spiel mit dem Feuerchen eines dritten Weltbrandes plötzlich nicht mehr mitmachen. Es ist bezeichnend, daß der ansonsten eine kräftige Sprache nicht gerade scheuende deutsche Verteidigungsminister Strauß die These eines notwendigen Präventivkrieges glattweg als „irrsinnig“ bezeichnet „Münchner Merkur“, 1.2. August 1959 und auch den Gedanken eines deutsch-amerikanischen Bündnisses an Stelle der NATO verwirft.

Das alles kümmert unseren Ex-Landsmann wenig. Gleich einem Feldwebel aus Alt-Potsdam bei der Ankunft von Rekruten aus der „Ostmark“ donnert er die „Schlappschwänze“ an, als die ihm heute — o sonderbare Wandlung! — die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes und insbesondere die deutsche Jugend erscheinen. Besonders auf die großen Zeitungen der Bundesrepublik hat es der Autor scharf. Aber selbst wo er Lob spenden will, endet es letzten Endes mit einer Beleidigung. Ich weiß nicht, ob es unsere Freunde vom „Rheinischen Merkur“ freuen wird, als ebenso „anständig wie provinziell“ S. 135 apostrophiert zu werden. Ergebnis: die schon erwähnte allgemeine Ablehnung der Schlammschen Thesen in der deutschen Oeffent- lichkejt, die keineswegs mit „Neutralismus“ oder gar Kapitulationsbereitschaft verwechselt werden darf. Es ist eben etwas anderes, eine Pistole wohlverwahrt gegen einen allfälligen Angreifer bei sich zu tragen, als mit eben'dieser Pistole in der Hand wild gestikulierend durch die Stadt zu laufen . ..

Der „Fall Schlamm“ sei aber der Anlaß, um auf noch ein Problem in diesem Zusammenhang mit allem nötigen Ernst sprechen zu kommen. Es gibt auf etwas niederer Ebene auch bei uns einzelne jüdische Mitbürger, die bereit sind, auch den letzten SS-Mann unter der Fahne des Antikommunismus voll Entzücken zu umarmen. Meist sind es — siehe Schlamm — dieselben, die einst als Antifaschisten mit Kommunisten ein Herz und eine Seele waren. Sofern sie nicht sogar das KP-Mitgliedsbuch selbst einmal in der Tasche trugen. Der christliche Demokrat hat letzteres abgelehnt, er wird sich von niemandem zum ersteren überreden lassen. Wer ein festes Fundament für seine freiheitlichen Auffassungen hat, kann auf Kurzschlußreaktiönen und,Hysterie verzichten.

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