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Jahrhundert im Kontrapunkt

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EUROPÄISCHE ZEITENWENDE. Tagebücher 1835 bis 1860. Varnhagen von Ense und Friedrich Fürst Schwarzenberg. Ausgewählt, herausgegeben und eingeleitet von Joachim Schondorff. Verlag Albert Langen-Georg Müller, München 1960. 364 Seiten. Preis 16.80 DM

Noch immer hat die rückschauende Geschichte die Akten über das 19. Jahrhundert nicht geschlossen. Dem hochgemuten Optimismus der Schillerschen „Ode an die Freude“, der das Saeculum einleitete, der Stafette der Fortschrittsgläubigkeit, die erst im Jahre 1914 jäh abriß und in der Hegel, Darwin, Marx und Spencer zu den glänzendsten Läufern zählten — „freudig, wie ein Held zum Siegen“ —, steht der immer dichter werdende düstere Leichenzug derer gegenüber, die gerade dieses Jahrhundert als das verhängnisvollste und tragischste der gesamten Geschichte bezeichneten. Byron und der Goethe der letzten Eckermann-Gespräche gehören zu diesen nach rückwärts und mehr noch nach vorwärts gewandten Propheten. Nietzsche, Strindberg beschließen den Leichenzug, dem Thomas Mann im „Zauberberg“ unter der letzten Kapitelüberschrift „Der Donnerschlag“ den Endsalut setzt. Gerade weil dieses in seinen Ausläufern bis in unsere Tage hinein wirkende Saeculum sich bis heute der etikettierenden Wertung entzogen, sein letztlich bestimmendes Leitmotiv noch nicht preisgegeben hat, erscheint es adäquat, sich um eine kontrapunktische Darstellung zu bemühen. Joachim Schondorff hat dies in einer ungemein fesselnden und originellen Weise besorgt. Er stellte die zumindest der Epoche nach fast gleichzeitigen Aufzeichnungen zweier zu ihrer Zeit hochgeschätzten Tagebuch- und Memoirenautoren dergestalt nebeneinander, daß Gegensatz und Parallele gleichermaßen erkennbar werden. Friedrich Fürst Schwarzenberg, Sohn des hochberühmten Feldmarschalls, der sich selbst den „Lanzknecht“ nannte, ist nicht nur zufällig in Osterreich beheimatet. In ihm verkörpert sich — mit allen Tugenden und Untugenden — jenes Großösterreichertum, das seine Sache eigentlich schon zu Ende des 18. Jahrhunderts verlorengeben mußte. Weder Josef II. noch Metternich noch Felix Schwarzenberg noch gar die Männer der Bachschen Ära hatten für das Staats- und Lebenskonzept Verständnis, an dem jene Feudalen festhielten, die man schon damals als „Reaktionäre“ bezeichnete. Der Lanzknecht Schwarzenberg, aus dessen Tagebüchern und kleineren Aufsätzen der Herausgeber gerade so viel an rein Zeitgebundenem entfernt hat, daß sie von Anfang bis zum Ende fesselnd und lesbar bleiben, scheint für oberflächliche Betrachter nichts anderes als ein mißvergnügter, von allem Anfang an veralteter Laudator temporis acti zu sein. Und doch ist das, was er will, nicht das schlechthin Alte, sondern vielmehr das Bleibende und Zeitlose. Seinem Wunsche nach sollen die Menschen der Monarchie „österreichisch“ bleiben, nicht zentralistisch genormte „Österreicher“ werden. (Gerade dies aber wollte um die Jahrhundertmitte ja sein Nahverwandter, Felix Schwarzenberg, mit seinem großösterreichischen Universalkonzept.) Wenn er (S. 110) schreibt, daß die „Völker- und Staatswesen nicht nur Teile eines Ganzen, sondern selbst das Ganze“ sind, dann drückt er 1843 dem Wesen nach eben das aus, um dessen Verwirklichung man sich genau hundert Jahre später erneut zu bemühen begann: den am Beispiel Österreichs demonstrierten europäischen Integrationsgedanken, den heute kaum jemand als „reaktionär“ bezeichnen wird. Man könnte dieses eine Beispiel gleichsam nebenher entdeckter, grandseigneural beiläufig notierter Erkenntnisse durch dutzende ergänzen, die sich fast auf jeder Seite finden. Als sich der greise Lanzknecht in den fünfziger Jahren, der Epoche des ersten hochliberalen Triumphes, weigerte, Liberalismus ohne weiteres mit Freiheit gleichzusetzen, und seine Aufzeichnungen mit einem Kassandraruf vor dem nun erst zur Entfaltung gelangenden Staatsapparat büro-kratisch-zentralistischer Tyrannis schloß, stand er in seiner Epoche nur noch als Don Quijote da. Auch sein Zeitgenosse Varnhagen von Ense, preußischer Legationsrat und Gemahl der berühmten Rahel Levin, hätte sich empört geweigert, ihm auch nur das geringste Einverständnis zu bekunden.

Und dennoch ist der zu Berlin lebende Varnhagen, der als ein geistvoller und satirischer Vorkämpfer der liberalen Revolution begann, dem Antipoden im kaiserlichen Wien am Ende näher, als ihm selbst bewußt gewesen sein dürfte. Auch seine Tagebücher — im Stil journalistisch glatter — umfassen die Epoche der Jahrhundertmitte und enden mit 1858. Aber er sieht die Dinge zunächst von der anderen Seite her. Er setzt nach den Befreiungskriegen auf den neuen Geist des neuen Jahrhunderts, auf das Reformwerk, das unter Humboldt und Hardenberg, Stein und Scharnhorst in seiner preußischen Heimat begonnen worden war. Zug um Zug sieht er, der als wacher. we,nn, auch in, die - Heimlichkeit de .Tagebuch flüchtender Beobachter das Ausweichen in die selbstbetäubende Phrase verschmäht, wie sich die Dinge in eine neue, der alten in nichts nachstehende Tyrannis zu wandeln beginnen. Dazu kommt noch, daß dieser Prozeß unter Friedrich Wilhelm IV., dem „Romantiker auf dem Throne“, durch eine Welt von Vorhängen aus Weihrauch und Bierdunst verschleiert wird. Und so tritt am Ende des Beobachtungsganges, den der Herausgeber unter der oft wechselnden Führung Schwarzenbergs und Varnhagen unternimmt, ein höchst merkwürdiges Resultat zutage: die beiden so verschiedenen Positionen nahem sich, die Bahnen kreuzen einander, die ursprünglichen Parallelen schneiden einander nicht erst im Unendlichen. Anno 1960 kann man sehr genau ahnen, an welchem Punkt die 1860 abgebrochenen, in Gedanken aber weitergeführten Linien der beiden so ungleich gearteten Memoirenschreiber einander zweifelsohne getroffen hätten: dort, wo es zum 1914 sichtbar gewordenen Ende des Jahrhunderts um Bilanz und Gerichtstag gegangen wäre. Es bleibt dem Leser überlassen, nach der Lektüre der letzten Seite das hier Entwickelte weiterzudenken. In diesem Sinne ist dieses sorgfältig und dabei doch geschickt und rasant gestaltete Buch „historisch“ zu nennen, nicht als eine archivalische Sammlung, sondern als eine zum Stellungnehmen zwingende Konfrontation mit einer Vergangenheit, die alles andere als abgeschlossen ist.

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