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In den Eishöhlen

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Unser junger Begleiter war im Ansteigen dauernd mit seiner Armbanduhr beschäftigt, die sowohl antimagnetisch als wasserdicht und selbstaufziehend war. Er hatte erst vor wenigen Tagen seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert und ließ nun das moderne blanke Ding auf seinem Gelenk gerne im Licht aufblitzen. Der Sekundenzeiger war groß ausgebildet, er lief über das ganze Zifferblatt und seine zuckende Präzision erregte immer von neuem die Aufmerksamkeit des Jungen. Es mag sein, daß ihm auch die Zeit und ihre kleinen Unterteilungen noch wichtiger erschienen als uns Älteren, deren an größere Weiten gewohnter Blick lieber in das unter uns versinkende Tal und über die sich immer höher vor uns aufbauenden Kalkfelsen streifte.

Unser Sinn schien etwas weitsichtig geworden zu sein für die kleinen Abmessungen der Nähe, und da uns selber bereits die Jahre hinzugleiten begannen, war unser Blick mehr auf die große, bleibende Form gerichtet, deren Unveränderlichkeit sich durch so tiefe Schlüchte der Zeit erhalten hatte, daß uns beim Anblick ihrer Felsen Gedanken von Unvergänglichkeit bewegten: wie wir das Leben in jenen Zeitmaßen benennen, die wir nicht mehr zu übersehen vermögen.

Indessen traten wir schweigend und schwer atmend immer tiefer ein in die Schatten der steilen Hänge, und je mehr wir uns den Höhen näherten, desto mehr schienen die Ziele vor uns zu weichen. Uralte mächtige Nadelbäume schöpften langsame Atemzüge und fingen uns im Duft ihres geduldigen Wachstums. Hinter ihnen blickten, unberührt wie Sterne, die Kalkfelsen auf uns nieder, denen wir uns zuckend und sprungweise wie Sekundenzeiger auf dem stufigen Weg zu ihren göttlichen Häuptern nahten.

Noch maßen wir, beim Eingang zu den Bergen angekommen, mit menschlichen Normen — wir hatten eine halbe Stunde zu warten, bis wir durch den schmalen Schlupf eintreten konnten, durch den vorher noch die Gäste der letzten Führung plaudernd und frierend kamen. So erfuhren wir zunächst, was zu erwarten war: daß es im Berge kühl und dunkel sei. Mehr verriet die schwatzende Gruppe nidit von dem Geheimnis, aus dem sie trat. Unser junger Begleiter stellte mit einem Blick fest, daß sie außerdem fünf Minuten länger gebraucht hatte, als vorgesehen war.

Wir alle hatten bisher, und ohne viel darüber zu denken, die Kalkriesen, die zu unserer Arbeit im Tale uns über die Schultern blickten, seit wir uns erinnern können, für etwas Festes, durch und durch Gefügtes, Unwandelbares angesehen, für etwas Seiendes, das, obwohl es leblos schien, schon an jener Grenze lag, wo das Tote sich mit dem Ewigen vereinen mußte. Nun, gebückt und mit aufgeschlagenem Mantelkragen hinter den zischenden Flammen unserer Azetylenlampe tappend, erkannten wir, daß auch hier unser Weg durch das Veränderliche führte. Unter den Tropfen kalkhaltigen Wassers, die von den gewölbten Decken fielen, waren die Kerzen der Tropfsteine aufgewachsen, jenen gegenüber, die gleichzeitig mit dem Abrinnenden sich bodenwärts vergrößerten. Hitze und Frost hatten den Leib der Berge gesprengt, die Wasser des Frühjahrs ihn durchrauscht und Täler geschnitten — nun waren die geringen Ablagerungen der sickernden Wasser wieder am Werk, die Kanyons verwachsen zu lassen und zu schließen. Graue und weiße Ablagerungen, je nach dem Mineralgehalt der sickernden Flüssigkeit, zeichneten phantastische Figuren an die Wände und bedeckten den Fels mit den Pelzen ihrer Kristalle. Manchmal hatten große Brocken Zweigwege der Höhlen schnell verschlossen, anderwärts aber fielen winzige Körner des Gesteins leise raschelnd auf den feuchten Boden, um so mit unendlicher Geduld das gleiche Werk zu vollbringen.

Nachdem wir so vorbereitet waren auf den Gedanken, daß auch noch das Ruhende nicht ruht und auch die steinerne Brust atmet, durften wir in den Eishöhlen einen Blick werfen auf die langsamen Schritte, die das Ewige tut.

So schien es uns hier auf den ersten Blick, als wäre mitten im Werk der Atem eingehalten worden und die Schöpfung einfach erstarrt. Gewaltige Seen verharrten als mattgrüne dicke Spiegel, Flüsse lagen eingeschlafen in ihren Betten, Wasserfälle fielen nicht und lagen als Eis über die Stürze hingebreitet oder wie Vorhänge an den Felsen. Alle diese Bauten von Eis: Spiegelsäle und Dome, Orgeln und Säulen standen da wie im Märchen vom Dornröschen, bevor der Prinz das Schloß betritt und die Zeit wieder anstößt. Die menschliche Schaulust hatte überall hinter den dicken Wällen des erstarrten Wassers elektrische Glühbirnen angebracht, um das Geheimnis zu durchleuchten oder mindestens seine Oberfläche sichtbar zu machen in jener fast unmöglichen Farbe von Eisblau, die dem Gedanken des Ewigen entspricht.

Allein bei näherem Hinsehen entdeckten wir einen Wassertropfen, der langsam über einen Eisbuckel kroch und sich in eine dunkle Falte schlich. Auch hier also, im Innersten des Beharrenden, in den schweigenden Eisadern des Gebirges, war kein beruhendes Sein. Hier galt bloß ein anderer Ablauf der Zeit, und der Gipfel des Eissturzes war in tausend Jahren auf den Boden der Felsen gestürzt wie die Wasser der großen Fälle in Sekunden. Hier waren die Blätter anders beziffert, hier schnellte die Unrast nicht hastig hin und wider, und die langen Pendel der Uhren schlugen in langsamem Takt einen Ablauf von unüber-blickbaren Maßen. Aber in dem kleinen Zeichen abgleitender Tropfen wurde um, deutlich, daß auch in diesen gewaltig ruhenden Hallen dasselbe Gesetz galt, nach dem die Eintagsfliegen ihren schnellen Liebestanz in den letzten Strahlen einer versinkenden Sonne halten.

Heiß und voll der süßen Trauer des schnellen Verwelkens empfing uns die Welt am Tage. Unser Abstieg wurde hastig durch das Drängen unseres jungen Freundes, der die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges als knapp bemessen ansah. Er erklärte uns mehrmals, ein wie herrliches Gebiet solche Höhlen für Räuber- und Indianerspiele sein müßten, aber er nahm hastig Schritt für Schritt talzu. Nur wir Älteren waren etwas nachdenklicher, und wir wunderten uns nicht im geringsten, daß wir schließlich den in Aussicht genommenen Zug versäumten.

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