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Verwandlung und Befreiung

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LANGE SCHATTEN. Erzählungen. Von V Hamburg. 248 Seiten. Preis 12.80 DM.

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LANGE SCHATTEN. Erzählungen. Von V Hamburg. 248 Seiten. Preis 12.80 DM.

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Die Kaschnitz selbst hat einmal erklärt, sie wolle mit ihrem Werk den Blick des Lesers auf die wunderbaren Möglichkeiten und tödlichen Gefahren des Menschen und auf die bestürzende Fülle der Welt lenken. In den 21 Erzählungen des neuen Buches dominieren die dunklen Erfahrungen: Angst, Unsicherheit und Einsamkeit, Versuchungen und schuldhafte Verstrik- kungen, aber auch unbegreiflich schreckliche Geschehnisse, in die der Mensch ohne eigene Schuld gerät, vor die das Schicksal ihn stellt, damit er sie bewältigen lerne und an ihnen wachse. Das ist überhaupt ein charakteristischer Zug der Kaschnitz: sie verharmlost nie die „tödlichen Gefahren”, die das echte Leben in sich schließt, aber sie sieht sie nicht im Zeichen der Hoffnungslosigkeit. Sie deutet immer den Ausweg an, im Erbarmen, im Vertrauen, in der Versöhnung, die mit der Annahme der Schuld beginnt.

Ganz schlicht und überzeugend wird das in „Schneeschmelze” gestaltet. Es gibt aber auch Geschehnisse, vor denen jeder Trost versagt, für die sich keine „Lösung” anbietet. Voll Auflehnung gegen die „mörderische Welt” ist die Erzählung „Das Ewige Licht”, in der das Schicksal jener Kriegsverstümmelten beschworen wird, für die es kein Zurück in das Lehen gibt, die in „Verstecken vor der WeU” ihr Dasein fristen.

Ein anderes, immer wieder auftauchendes Motiv ist „das Ringen um Befreiung und Verwandlung” (Der Mönch Benda, Das dicke Kind). Und ein weiteres bestimmendes Argument schließlich: die Auseinandersetzung mit dem Bereich des Magischen, des Mysteriösen, des Hintersinnigen, mit jenen rätselhaften Dingen zwischen Himmel und Erde, die sich jeder vernünftigen Erklärung entziehen. Von den verschiedensten Seiten her gerät die Autorin an geheimnisvolle Zusammenhänge zwischen irdischen Geschehnissen mit übersinnlichen Mächten und Kräften. Wir begegnen Marie Luise Kaschnitz’ Gestalten auffallend oft in Grenzsituationen, in einem seltsamen Zwischenreich auch, aber sie versinken nicht im Boderilosen. Sie stellen sich oder sie engagieren sich und finden darin den rettenden Anker. Auch im „Wahnsinn und der Unvollkom-

arie Luise Kaschnitz. Claassen-Verlag, menheit der Welt” blitzen Zeichen ihrer geheimen inneren Ordnung auf.

Für die Autorin selbst scheint die künstlerische Gestaltung ein wesentliches Mittel, um der Gefährdungen und Bedrängnisse des Daseins Herr zu werden. In den Tagebuchblättern „Am Circeo” (es ist sicher kein Zufall, daß für das angeschnittene Thema die Form des Tagebuchberichts gewählt wurde) beschäftigt sie sich eingehend mit dem Vorgang der Bändigung gelebten Lebens im Wort. Die Sehnsucht nach „der Sprache von morgen” und „neuen Formen” wird laut, und die Enttäuschung, daß sie sich auch für „herzzerreißende Erfahrungen” nicht finden lassen wollen. Seltsam und abwegig wirken derlei Überlegungen. Nicht einer „neuen Sprache”, nicht neuer Ausdrucksformen bedarf es ja, um die Welt, das menschliche Dasein, gültig im Werk zu spiegeln, in der Verwandlung und im Widerschein der Dichtung ihr eigentliches und wahres Wesen zu offenbaren!

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