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„Immer noch offen ..

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ÜBERALL NIE. Auagewählte Gedichte (1928—1985). Von Marie-Luise Kisvbnttl Claas- Sen-Verlag:, Hamburg. 1965. 264 Seiten. Leinen. DM 19.80.

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ÜBERALL NIE. Auagewählte Gedichte (1928—1985). Von Marie-Luise Kisvbnttl Claas- Sen-Verlag:, Hamburg. 1965. 264 Seiten. Leinen. DM 19.80.

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Zum 65. Geburtstag von Marie- Luise Kaschnitz hat der Claassen- Verlag eine von der Autorin selbst zusammengestellte Auswahl ihrer Gedichte aus den Jahren 1928 bis 1965 herausgebracht. Übersicht eines reichen Lebens, einer immer lebendigen Entwicklung, die, in der Tradition wurzelnd, zugleich ihr persönliche Züge verleiht. Tiefe Lebensund Weltbetroffenheit ist bei Marie- Luise Kaschnitz im Wort gebannt, durch strenge Formgebung zu allgemeiner Gültigkeit erhoben.

östliche und südliche Landschaft, Erlebnis der Schöpfung, leidenschaftliche Anteilnahme am Zeitgeschehen — Widerstand gegen die Mächte des Untergangs, die da heraufziehen — spiegeln die Gedichte bis 1957. Krieg, Gefangenschaft, Zerstörung auf der einen Seite; auf der anderen „Strom der Zuversicht“; „ ... das süße Vollkommene, / Das Menschenfeme, das war, lange bevor wdr’s ermaßen, / Und wenn wir dahin sind lange, / Blüht es noch immer ...“

In dem herrlichen Gedicht „Der Dichter spricht“, dem die zitierten Zeilen entnommen sind, ist das Nebeneinander von Trauer und Heiterkeit des Mensch-Seins programmatisch beschworen: „Warum also singen wir’s nicht, die Muschel, den Regenbogen? ..., / Warum enden wir nicht, von dem bitteren Alltag zu reden, / ... Es wirkt doch das Ganze in jedem ...“

„Nur daß wenn wir anheben, singen die Lilie, den Regenbogen...

Nur daß dann aufsteigt immer ein Antlitz schrecklich nahe,

Mit Augen, die klagen und fragen, durstigen Augen...

Und läßt uns nicht Ruhe, bis wir sein Schicksal singen,

Seinen Weg zwischen Dornen, sein Immerverlassenmüssen,

Seine Unrast, sein Heimatverlangen, Seine vergebliche Saat.

Und läßt uns nicht Ruhe, bis endlich, Aus unserem, aus seinem Munde Aufbricht der Jubel der Schöpfung, Ein Dennoch, ein feuriger Glanz.“ Neue Töne klingen an in den Gedichtbänden „Dein Schweigen — Meine Stimme“ und „Ein Wort weiter“, die nach dem Tod von Marie- Luise Kaschniitz’ Gatten entstanden sind. Aus dem allgemeinen Erbar men „Mitlieben und Mitleiden“, ist nun ganz persönlicher Schmerz, eigene Verlorenheit geworden. Eine Auseinandersetzung, die zunächst nur Trauer, Entsagung, Qual der Vergeblichkeit der Liebe, Entleerung des Daseins spiegelt, um dann in den Zyklus „Notizen der Hoffnung“ zu münden. „Was willst du, du lebst“, heißt es in dem Gedicht „Meine Neugier“. Im „Bericht vom Neumagen“ stehen die Zeilen: „Du wirst geheilt, / Von was — / Genug / Geheilt.“ Der Tod ist allgegenwärtig in diesen späten Gedichten, der Tod, der den Geführten mitgenommen hat; als Verführer aber auch, der das eigene Weiterleben in Frage stellt. Es dauert lange, bis das tapfere „Dennoch“ gefunden wird: „Ich bleibe, wo ich bin, / In diesem Gehäuse das wehtut, / Das ich aufbrechen könnte...“ Marie-Luise Kaschnitz will, wie sie selbst gesagt hat, in ihrem Werk den Blick des Lesers auf die wunderbaren Möglichkeiten und tödlichen Gefahren des Menschen lenken, und auf die bestürzende Fülle der Welt. Schmerz, aber auch „irrationale Beglückung“ sind in ihrer Lyrik verdichtet, durch die Gestaltung verwandelt und schließlich bewältigt. In den späten Gedichten wird in sprachlicher Hinsicht eine „Entpersönlichung“ spürbar. Das Wort nimmt weitgehend den Charakter des „Zeichens“ an, ohne daß die Sprache dabei an Bildhaftigkeit einbüßt.

Die Kaschnitz hat einmal bekannt, daß es ihr um die „härteste innere Wahrheit“ gehe. In ihrer Lyrik versucht sie sie im Zauberspiegel der Poesie zu enthüllen, was nun gewiß nicht Verklärung der Welt und Verharmlosung des schweren Lebens bedeutet. Aber, es geschieht das, was Novalis so formuliert hat, es „fliegt vor einem geheimen Wort, das ganze verkehrte Wesen fort.“

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