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Literatur als strategische Macht

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AUFSÄTZE, KRITIKEN UND REDEN, Von Heinrich Boll. Verlag Kiepenheuer u. Witsch. 5:18 Selten. DM 12.80.

Für X, Y und Z schrieb Boll als Widmung in die soeben erschienene Sammlung seiner Aufsätze, Kriti-

ken und Reden, wobei unter den so apostrophierten Persönlichkeiten wohl auch DDr. h. c. Lieschen Müller oder der literarische Hausesel mancher Zeitung einen bescheidenen Platz erhalten mag. Bevor letzterer mit einem tiefsinnigen traurigen Iah das Werk des Autors an die Welt hinaus begleitet, möge der Leser gewarnt werden, diesen kürzesten aller Kommentare etwa auf den Autor zu beziehen, besonders da mitteleuropäische Esel, deren Schicksal es ist, kleine Kinder in den Vergnügungszentren der Großstädte im Kreis herumzutragen, ein ausgesprochen entwürdigendes Dasein führen.

Wie dem auch immer sei, aus dem bereits Angeführten wird sich leicht erkennen lassen, daß man es in dieser Sammlung von Essays, Briefen, Kritiken usw., die ja zum Teil auf Grund einiger provokanter und ebenso prägnanter Formulierungen bekannt sind, vor allem mit dem Satiriker Boll zu tun hat, aus dessen vitalem geistigen Interesse an Welt und Umwelt, an Institutionen und Menschen, kleinen und großen Dingen, eine oft harte und ätzende Polemik entspringt. Richtete sich sein Protest zunächst gegen den Krieg mit allen seinen Schrecken, so wird er in einer Welt zunehmender Ordnung, sozialer Gerechtigkeit und gehobenen Lebensstandards zum leidenschaftlichen Kritiker alles dessen, was als Zerrbild einer erhofften Wirklichkeit übrigblieb und trägt somit zu jenem offiziellen Ärgernis bei. daß diese Demokratie hinter den (berechtigten?) Wünschen der Intelligentia so unendlich weit zurück blieb, daß diese doch geheilte und von größeren Krisen und Kriegen verschonte Welt nur zum Widerspruch reizte, nur Hohn und Verunglimpfungen und Unbehagen hervorrief.

Im Gestrüpp der Angriffe, Invek-tiven und Zynismen scheint es nicht ganz einfach den wahren Feind zu finden. Einmal ist es ein Katholizismus der des Konformismus beschuldigt wird, dann wieder das Fernsehen mit seiner die kleinbürgerliche Enge fördernden Verharmlosung, wobei auch Reklame und Werbesendungen der Wirtschaft beteiligt sind und schließlich überhaupt ein Europa, das in einer lähmenden Lethargie zu versinken droht.

In den beiden meisterhaften Essays „Assisi“ und „Marx“ malt Boll das düstere Bild einer kraftlosen Epoche, die von echten Impul-

sen ebenso weit entfernt ist, wie etwa das heutige Touristenparadies Assisi von dem großen Heiligen oder der Wohlstandssoziialismus moderner Prägung von seinem Gründer. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ritte der Autor seine Attacken, um ein stehendes Wasser, das von der Verwesung bedroht ist, wieder zum Fließen zu bringen. Dieses an sich durchaus legitime Bestreben führt nur manchmal zur Überschätzung des boshaften Einfalls, so etwa, wenn er im Rahmen der liturgischen Erneuerung ein Kirchenlied mit dem aus einem Chanson abgewandelten Text „Sag mir wo die Christen sind“ und dazu das Responsorium „An der Kassa, an der Kassa“ vorschlägt.

Sicher, eine Literatur, die sich nicht als politische, aber strategische Macht versteht, wird immer den Kontakt mit dem aktuellen Geschehen behalten und so also

jedem erlaubt sein, den Feind dort anzugreifen, wo er ihn zu finden glaubt. Es bleibt nur zu hoffen, daß die Angriffe auch tatsächlich die richtigen Stellen treffen und nicht Attacken gegen X, Y und Z sind, die womöglich ins Leere greifen und die eigentliche Gefahr übersehen.

Jedem aber, der sich gerne scharfen Wind um die Ohren blasen läßt, ist eine Lektüre dieses Bandes zu empfehlen, selbst wenn er manchmal unter dem Zeichen oben genannter Endbuchstaben des Alphabets zu wehen scheint,

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