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Lummen und Mowen

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EINE VIOLETTE AHNUNG AM HORIZONT. Dann ein mit freiem Auge wahrnehmbarer Strich. Schließlich ein deutlich erkennbares Profil: rechts kantig, links sanft zum Meer abfallend, die aus Bombardements und Sprengungen hervorgegangene neue Form der Insel Helgoland. Zuletzt ein Hafen, Häuser, ein Leuchtturm ...

Von Anfang April bis Ende Oktober kommen die Touristen, um zu baden und um zu trinken, denn Helgoland ist Zollfreizone, und Alkohol und Tabak sind spottbillig.

Von Anfang April bis Ende Mai und dann wieder Anfang September bis Ende Oktober kommen die Zugvögel. In breiter Front ziehen sie über die Nordsee, nordwärts im Frühling, südwärts im Herbst. Ein Bruohteil von ihnen passiert Helgoland, einen zwei Quadratkilometer kleinen, grünen Fleck mitten im Meer. Man läßt sich nieder, für wenige Minuten, für ein paar Stunden oder Tage. Oder für immer. Ich selbst beobachtete im vergangenen Herbst auf der Insel hunderte winziger, grüner Vögel, die „hängengeblieben“ waren, denen es die Futterverhältnisse nicht mehr ermöglichten, sich für den Weiterflug genügend zu stärken und die im Lauf weniger kühler Tage allesamt eingingen. Auf Schritt und Tritt winzige Vogelleichen.

AUF HELGOLAND STEHT KAUM EIN BAUM. Der Wind, der ewige Wind, läßt nur Gras und allerhand Kräuter — und wilden Kohl in Mengen — so richtig gedeihen. Nur an einer Stelle, in einer kleinen, windgeschützten Senke auf dem „Oberland“, gibt es Bäume Gebüsch. Dieser „Fanggarten“ übt eine mächtige Anziehungskraft auf die vorüberfliegenden Zugvögel aus. Sie fallen scharenweise ein, um zu rasten — und werden plötzlich, von in die Hände klatschenden Menschen, in einen großen Trichter aus dünnen Netzen getrieben, der sich immer weiter verengt, bis er schließlich in einem Gebilde aus hölzernen Gängen und Kästen mündet. Glasscheiben täuschen immer wieder einen Weg ins Freie vor und locken die Schar nur immer tiefer in das Labyrinth, bis sie schließlich festsitzen. Ein Schieber öffnet sich, eine Hand greift herein und holt einen nach dem anderen heraus.

Zwickzwack — der Ring sitzt, mit einer kleinen Zange festgedrückt, locker, aber unverlierbar am Bein. Die Nummer wird in ein großes Buch eingetragen, nebst Datum und Uhrzeit — auch die ist wichtig, denn es kam vor, daß man den Vogel schon zwei Stunden später, rund 60 Kilometer von Helgoland entfernt, an der Küste wieder einfing. Auch sein Gewicht wird festgehaiten. Zu diesem Zweck muß er sich auf die Briefwaage legen lassen, und ehe er sich aus der ungewohnten Rückenlage befreit, ist das Gewicht auch schon abgelesen.

Für kompliziertere Fälle, die sich nicht so willig in die Netze begeben, werden Lockvögel bereitgehalten. Sie sitzen in Käfigen, in die man zwar hineinschlüpfen kann, denen man aber nicht mehr entrinnt — außer auf dem Umweg durch die Hand des Mannes mit dem Ring, der Zwickzange, dem Bleistift und der Waage.

Und hier ein Auszug aus dem Gästebuch: Bereits im Februar: Feldlerchen, Stare, Schneeammern, Amseln und Enten. Im März: Drosseln und Waldschnepfen, Finken, Sperber und Enten. Im April kommen die unübersehbaren Scharen der Insektenfresser: Gartenrotschwanz, Grasmücke, Laubsänger, Rohrsänger, Steinsohmätzer, dazu Tauben und Bussarde. Im Juli klingt der Zug ab, um dann Mitte August, in umgekehrter Reihenfolge, wieder zu beginnen. In besonders strengen Wintern suchen sogar nordische Tauchenten und andere Arten Zuflucht auf dem offenen Meer von Helgoland, wo oft noch zu Weihnachten die Rosen blühen, wo der Golfstrom ein so mildes Klima beschert, daß nur ganz, ganz selten Schnee fällt und wo sich bereits im Februar die ersten Gäste in das künstlich erwärmte Wasser eines Schwimmbek-kens unter freiem Himmel wagen. *

WOZU DIE VOGELFORSCHUNG? Wozu die mit einem Leiter, Doktor Gottfried Vauk, und einer Hilfskraft besetzte Vogelwarte? Nun, es wurden bisher 437 Vogelarten, vom Haussperling bis zum Schwan, in Helgoland beobachtet. Darunter Hunderte von „Stammgästen“, aber auch viele „Irrgänger“, die sich einmal oder mehrmals hierher verirrt haben, obwohl die Insel keineswegs auf ihrer üblichen Reiseroute liegt. Durch ihre Lage am Ausgang der deutschen Bucht ist sie ein einzigartiger Beobaohtungsposten. Und die Geheimnisse des Vogelzuges sind erst zum kleinsten Teil enträtselt. Ihre Erforschung ist nach wie vor eine wissenschaftliche Aufgabe ersten Ranges. Tausenden Vögeln werden Ringe angelegt — nur ein winziger Prozentsatz davon wird irgendwo auf der weiten Welt wiedergefunden und zurückgeschickt. Aus diesen Funden lassen sich Schlüsse auf die Reiserouten, Fluggeschwindigkeiten und Gewohnheiten dieser Zugvogel ableiten.

ABER ES FINDEN KEINESFALLS ALLE GEFIEDERTEN GÄSTE paradiesische Zustände auf Helgoland. Ganz im Gegenteil, für manohe ist es ein ungemütlicher Aufenthalt. Den Möwen von Helgoland zum Beispiel ist Dr. Gottfried Vauk wohlbekannt und verhaßt.

Während sie es den Kurgästen ohne weiteres gestatten, sich auf günstige Photographierentfernung heranzupirschen, braucht er nur das Gebäude der Vogelwarte zu verlassen, und schon beginnt einen Kilometer weiter auf den Brutplätzen der Silbermöwen der hastige Aufbruch in die entlegensten Winkel der Insel. Dafür sorgen die Wachtposten mit ihrem Warngeschrei.

Besagte Wachtposten sind sozusagen als Aufklärungsflieger eingesetzt. Sie behalten das Stationsgebäude aus der Luft im Auge und schlagen Alarm, wenn der besagte Herr es verläßt. Manchmal vertauscht er seinen kühn ins Gesicht gerückten Jägerhut listigerweise gegen eine andere Kopfbedeckung und macht auch seine Gestalt durch allerlei Vermummungen unkenntlich. Doch die Möwen fallen auf solche Täuschungsversuche immer nur sehr kurze Zeit herein. Bald ist ihnen der verkleidete Dr. Vauk so vertraut wie der unverkleidete.

Er hat die Unfreundlichkeit, aus einem Kleinkalibergewehr auf sie zu schießen. Er will sie vertreiben. Er legt Wert darauf, daß es sich in Möwenkreisen herumspricht, Helgoland sei nicht länger als gemütliches Silbermöwendomizil zu betrachten. Nur mit ihnen, den Silbermöwen, liegt er in Fehde. Die seltenen Dreizehenmöwen hingegen sind auf Helgoland ebenso willkommen wie alles andere, was da durch die Lüfte fliegt, Federn besitzt und einen Schnabel und nicht zuletzt Beine, denen man einen Metallring mit eingestanzter Inschrift überstreifen kann.

FAST ZUM WAHRZEICHEN HELGOLANDS WURDEN DIE LUMMEN, genauer gesagt die Trot-tellummen, auch Troil- oder dumme Lummen genannt. Sie gehören zur Familie der Alke, sie werden etwas weniger als einen halben Meter groß, sie brüten ansonsten nur an den Küsten des Nordatlantik und des Stillen Ozeans — wer sie nicht in Helgoland beobachtet, muß weit reisen, wenn er ihre Nester zu Gesicht bekommen will. Aber auch auf Helgoland würden sie eines Tages verschwinden, wäre nicht die Vogelwarte.

Wie die Silbermöwen Helgolands zu gefährlichen Feinden der Lummen wurden, das ist ein dramatisches und aufschlußreiches Kapitel aus dem Buch der Natur. Gewiß, man muß etwas gegen die Räuber tun. Gleichzeitig aber bewundert man die Anpassungsfähigkeit der Silbermöwen, ihre Intelligenz, ihre Fähigkeit, Tricks und Jagdimetho-den, die ein Exemplar entwickelt hat, durch Nachahmung schnell zum Allgemeingut der Möwenkolonie zu machen.

Der Trottellumme genannte nordische Vogel mit dem geraden, glatten, scharfen und spitzen Sohnabel, den dreizehigen Schwimmfüßen mit den scharfen Krallen, dem schwarzen Rücken und dem weißen Bauch könnte sich natürlich äußerst wirksam gegen jeden Möwenangriff wehren. Die Silbermöwen denken auch gar nicht daran, sich an den erwachsenen Lummen ernstlich zu vergreifen. Auf die Eier und auf die Jungen haben sie es abgesehen und auf die frischgefangenen Fische in den Schnäbeln der Lummen. Und auch dies alles erst seit kurzer Zeit. *

URSPRÜNGLICH LEBTE MAN FRIEDLICH NEBENEINANDER. Die Lummen auf ihrem Felsen, der, seit jeher als „Lummenfelsen“ bekannt, kürzlich mitsamt seiner Umgebung zum Naturschutzgebiet ernannt wurde. Im Frühling geht es da lebhaft zu. Nest klebt an Nest, auf winzigen Vorsprüngen und fußbreiten Felsbändern — die braunroten, gelblich geäderten Sandsteinwände der Insel erheben sich an dieser Stelle direkt aus dem Meer. Obwohl hier nicht ausschließlich Trottellummen nisten, gibt es niemals Streit. Dr. Vauk vermutet, daß für den Verkehr innerhalb dieser Kolonie Lautäußerungen entwickelt wurden, die genauest beachtet werden — jedenfalls hat man noch nie ernsthafte Auseinandersetzungen beobachtet.

Verteidigung gegen Außenstehende war bisher offenbar nicht nötig. Die dichtgedrängte Masse der Vögel wirkte so abschreckend, daß sich nicht einmal die — bis vor ein paar Jahren in Helgoland allgegenwärtigen — Ratten herantrauten. Doch eine Tierart, die sich nicht zu verteidigen braucht, hat auch keine Gelegenheit, die Kunst der Selbstverteidigung zu erlernen. Tritt dann plötzlich doch ein Feind auf, und noch dazu ein besonders raffinierter, so steht sie hilflos da.

Eines Tages entdeckten die Silbermöwen die Achillesferse der Lummen. Offenbar hatten sie begonnen, sich vor dem zunehmenden Fremdenverkehr von ihren angestammten Brutplätzen in die unzugänglichen Felsen zu verziehen, wobei sie notgedrungen in die Nachbarschaft der Lummen gerieten. Und der Versuchung, dann und wann nach einem köstlichen Lum-menei zu pieken, nicht immer widerstehen konnten. Sicherlich machten ein paar besonders künne Räuber den Anfang. Sicher waren sie auf ein Donnerwetter von rächenden Schnabelhieben gefaßt. Doch nichts geschah. Die Lummen nahmen die schnöde Tat nicht einmal zur Kenntnis. Die Silbermöwen wurden frecher.

DOCH ZUM GLÜCK SIND DIE MEISTEN SILBERMÖWEN, die man rund um Helgoland sehen kann, nur besuchsweise da. Sie treffen ohne eigene Erfahrung im Berauben wehrloser Lummen ein. Nur die auf Helgoland heimischen Möwen haben Gelegenheit, sich darauf zu spezialisieren, allerdings — unter den lernfähigen Möwen ist die „Ansteckungsgefahr“ sehr groß. Man beschloß also, ihnen den Aufenthalt auf Helgoland etwas zu versauern und die „Stammbevölkerung“ an Möwen nicht allzu weit über dreihundert Paare anwachsen zu lassen.

Die Vogelwarte auf Helgoland und ihr Leiter Dr. Vauk, ein Mann, der auch den österreichischen Fachleuten wohlbekannt ist und sich oft am Neusiedler See aufhält, der ja bekanntlich (heute noch!) eines der größten europäischen Vogelparadiese ist, sie haben, wie man sieht, eine doppelte Aufgabe.

Sie betreiben Forschungsarbeit, hauptsächlich eine statistische Arbeit, wie es das Beringen und das Bearbeiten der Wiederfunde nun einmal ist, teils aber auch Verhaltensforschung.

Und sie wenden die Ergebnisse ihrer Arbeit gleich in der Praxis an. Durch die Beobachtung der Lummen und der Möwen wurde eine Gefahr für die Lummenkolonie entdeckt, gleichzeitig aber auch das Mittel, ihrer Herr zu werden.

Niemand vermag zu sagen, wie viele Tierarten auf dieser Erde bereits ähnlichen „Entdeckungen“ ihrer Feinde zum Opfer gefallen sind. Wir pflegen die Natur, soweit sie nicht durch den Menschen beeinflußt wird, noch immer allzu statisch zu sehen. Welche Dynamik den Beziehungen zwischen den Arten innewohnen kann, lehren die Möwen und die Lummen von Helgoland.

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