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Weißer Sand, rote Kant...

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ALS WINZIGER VIOLETTER STRICH erscheint Helgoland am Horizont. Dann taucht ein sanftgeschwungener, rotbrauner Walrücken aus dem Meer. Dann erkennt man auch den kantigen Leuchtturm. Schließlich wird neben der Insel die benachbarte Düne mit dem Badestrand sichtbar. Vom Fuß der Felswand leuchtet eine Reihe bunter Flecke herüber, rot, blau, weiß, gelb: Häuser. Unsere schneeweiße „Bunte Kuh", die mit dem Seeräuberschiff, nach dem sie benannt wurde, nichts gemeinsam hat, als daß sie schwimmt, läuft ins molengeschützte ruhige Fahrwasser ein. Der Anker reißt mit dem Schlamm ein paar Quallen an die Oberfläche. Die Maschinen liegen still. Vom Strand tuckern offene Boote mit grünrotweißen Flaggen heran.

„HELGOLAND IST EINE BAUSTELLE“ verkündet eine Tafel dem ausgebooteten Gast, der höflich gebeten wird, nach Möglichkeit nur die gebahnten Wege zu benützen. Die Mehrzahl der Gelandeten scheint sich hier schon auszukennen und begibt sich, im Gleichschritt möchte man sagen, zu den Verkaufsbuden am Strand. Helgoland hat für seine Gäste zollfreie, unglaublich billige Kostbarkeiten bereit: Whisky und Wolldecken aus Schottland, Zigaretten, Konserven und Kaugummi aus Amerika, Schokolade und Pfeifentabak aus England und Holland — sogar die deutschen Zigaretten sind hier steuerfrei.

Wer sich eingedeckt hat, begibt sich, wenn er die Mühe nicht scheut, auf den obligaten Rundgang, der auf dem „Klippenw g“ in einer knappen Stunde sechzig Meter über dem Meer um den Helgoländer Felsen herumführt. Zwei Stunden nach der Ankunft tuten die Schiffssirenen: Die „Bunte Kuh” ruft ihre Schäflein zum Sammeln. Winzig klein sieht sie von hier oben aus. Wie Spielzeugdampfer gleiten die Schiffe vom Seebäderdienst der Hapag davon. Und jetzt ist Helgoland erst Helgoland.

DAS WINZIGE HOCHPLATEAU, vielleicht vierzig Hektar groß, war früher eben wie .ein ferett uncf trug die größere der beiden Helgoländer, Ortschaften. Hftule , ist- es..eifle Kraterlandschaft und ein einsamer Ort. Die einzigen Gebäude sind ein ehemaliger Flakturm, der als provisorischer Leuchtturm dient und eine unbemannte Funkstation für den Luftverkehr. Ueberall wächst eine großblättrige Pflanze mit blaugrünen Blättern, die man bei näherem Hinsehen als verwilderten Kohl erkennt. Aus der toten Felswand hängen ein paar Kabel und Rohre, da und dort schwebt ein Mauerrest über dem Abgrund: Das ist von den Befestigungsanlagen des waffenstarrenden Stützpunktes geblieben. Tief unten, von der Brandung umspült: Betontrümmer, Reste von Geschützständen, Molen und Hafenanlagen.

Obwohl der Mensch Helgoland sehr stark verändert hat, ist und bleibt es eine gewaltige Naturszenerie. Beim Heraussprengen der Geschützstellungen aus der Felsenwand wurden tiefe Schluchten gerissen, so daß die Insel heute noch zerklüfteter und gewaltiger wirkt als vorher. Freilich hat der Mensch mit den Sprengungen den Zerstörungskräften der Natur Vorschub geleistet. Der „Mönch", der bekannte, am Nordwestende der Insel aufragende Felsturm,

dessen Name aus einer Umdeutung des alt germanischen Wortes „Manki“, Pferdenacken, entstanden ist, wurde arg verstümmelt, der Sandstein ist überall morsch und bröckelig geworden. Helgoland, das in der Tertiärzeit fünf mal acht Kilometer groß gewesen sein dürfte und dessen Oberland jährlich um 150 bis 200 Quadratmeter kleiner wird, dürfte in 2000 bis 2500 Jahren völlig verschwunden sein.

Aber soweit ist es noch lange nicht. Auf dem

Oberland liegt bereits das Baumaterial für eine neue Ortschaft bereit. Der gesamte Baugrund mußte mehrere Meter tief durchgebaggert und von Blindgängern gesäubert werden. Nun sind bereits die Rohre für die Fernheizung gelegt, im kommenden Jahr sollen sechzig Häuser wenigstens im Rohbau fertig werden. Im Unterland am Fuß des Felsens ist man schon weiter.

ZWISCHEN DEM MEER und der in allen Schattierungen vom Grauweiß bis zum tiefsten Braunviolett gestreiften Felswand ist nicht viel Platz zum Bauen. Aber diese Siedlung braucht auch nicht viel Platz. Helgoland verdankt zwar dem Golfstrom ein mildes Klima, das (so heißt’s) manchmal noch zu Weihnachten die Rosen blü hen läßt, aber der ewige Wind zwingt, die Menschen zum Zusammenrücken. Eng aneinandergedrängt bieten die Häuser einander Schutz.

Und was für Häuser! Hier darf sich der von den Architekten weder in Deutschland noch in Oesterreich verwöhnte Gast uneingeschränkt an allem freuen, was er sieht. Auf Helgoland wurde die Gelegenheit, nach einer totalen Zerstörung besser und schöner wiederaufzubauen, genützt wie kaum anderswo. Auf einer Insel ohne das Gegeneinander der verschiedenen Einflußnahmen, ohne Verkehr und ohne Büropaläste, auf der sich überdies nur Helgoländer wieder ansiedeln dürfen, hat man’s freilich auch leichter. Aber das schmälert nicht die Leistungen der Architekten, das macht sie erst möglich.

An die 800 Menschen wohnen hier größtenteils in Einfamilienhäusern. Man kann der Länge und der Quere nach herumgehen, bis in den letzten Winkel, nirgends wird man eine störende Fehlproportion finden, nirgends eine Farbe, die nicht zur anderen paßt. Und gerade ihre Buntheit ist ein besonderer Reiz dieser Architektur, dieser Ortschaft mit den roten, blauen, gelben und schwarzen Wänden. Mit unerhörtem Farbensinn scheinen sogar die blauen Sessel auf der Terrasse einer Pension auf das gelbe Glas abgestimmt zu ein, durch das sie hindurchschimmern. Nichts wiederholt sich, auf kleinstem Raum kann man immer wieder Neues entdecken. Die meisten Dächer sind auf der Bergseite tiefer hinuntergezogen als auf der Seeseite, manche fast bis zum Boden: Sie dienen zum Sammeln des Regenwassers, das eine Hauptstütze der Trinkwasserversorgung bildet. Bei aller Buntheit und Vielfalt — von den Farben abgesehen — dient nichts nur der Dekoration, nichts wirkt verspielt.

Die Architekten, die in einem Wettbewerb ermittelt wurden, arbeiten mit der Gemeindeverwaltung und mit einer technischen Kommission zusammen; deren Vorsitzender ist Professor Otto Barting, Präsident des Bundes Deutscher Architekten, Mitglied des Leitenden Ausschusses der

Internationalen Bauausstellung in Berlin. Im Rahmen eines „gesteuerten Baustils“, der im Gegensatz zu gesteuerten Baustilen, wie sie anderswo üblich sind, alles für sich hat, und eines Aufbauplanes, in dem Straßenzüge und Geschoßhöhen festgelegt sind, haben die Architekten jede Freiheit. Das Ergebnis: Die Siedlung auf Helgoland wirkt bei aller Buntheit und Vielfalt wie aus einem Guß und sie wirkt wie ein Stück von der großartigen Naturszenerie, in die sie hineingestellt wurde.

SCHON IN DER EDDA wird Helgoland erwähnt, es ist Forsitęsland, Land des Sohnes Baldurs und Nannas, der im germanischen Olymp den Saal „Glanzheim“ besitzt und von dem alle, die mit Streitigkeiten zu ihm kommen, versöhnt wieder Weggehen. Um 800 berichtet Alkwin in seiner „Lebensbeschreibung des heiligen Willibrord“, daß die Heiden Helgoland so heilig halten, daß sie auf der Insel nichts zu berühren wagen und daß keiner sich erlaubt, anders als schweigend aus der dort entspringenden Quelle zu trinken oder zu schöpfen. Um das Jahr 1000 berichtet Adam von Bremen, daß auf Helgoland sogar die Seeräuber den zehnten Teil ihrer Beute als Opfer darbringen. Spätere Räuber hielten es weniger streng, Klaus Störtebecker und Goedecke Michel machten den Inselbewohnern arg zu schaffen, bis sie vertrieben wurden.

Helgoland war jahrhundertelang, bis in die jüngste Zeit, ein wichtiger strategischer Punkt, der mehrmals seinen Besitzer wechselte. Lange Zeit gehörte es den Herzögen von Schleswig und Gottorp, 1714 bis 1807 den Dänen, anschließend den Engländern. Während der Napoleonischen Kontinentalsperre war Helgoland der wichtigste Umschlaghafen Europas. 1890 erwarb Deutschland die Insel im Austausch gegen Sansibar, 1826 wurde das Nordseebad gegründet, es folgten Jahrzehnte des Aufschwunges. 1841 dichtete hier Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied, später wurde Wilhelm II. hier ein häufiger Gast, dem man einen mit blauem Samt ausgeschlagenen Prachtwagen bereithielt, der schräg gebaut war, auf daß der Kaiser bei der steilen würdevolle Mßl- bHeIg,Q&)ds wiss4nschafę]jęĮ e Institute, die ebenfalls noch vor dem ersten Weltkrieg hier errichtet wurden, eine Vogelwarte und eine Biologische Anstalt, errangen Weltruf.

DER ERSTE WELTKRIEG brachte einen Rückschlag, der zweite die totale Zerstörung. Bis 1945 gelang kein einziger Angriff auf das schwerbewaffnete Eiland — dafür luden am 18. April 1000 Bombenflugzeuge in mehreren Wellen ihre verderbenbringende Last ab — glücklicherweise zu einem Zeitpunkt, zu dem die Zivilbevölkerung bereits evakuiert war. Dann wurde Helgoland jahrelang.als Uebungsziel für englische Bombenflugzeuge verwendet, überdies wurden am 18. April 1947 4610 Tonnen Dynamit in den Kasematten und Befestigungsanlagen sowie in Bohrlöchern innerhalb des Felsens entzündet. Die 2000 Meter hohe Sprengwolke soll bis Hamburg zu sehen gewesen sein.

Die Freigabe Helgolands ist wahrscheinlich nur der Zivilcourage einiger Helgoländer zu danken, die immer wieder auf der Insel landeten, zum Protest gegen die Bombardierungen und um weitere unmöglich zu machen. Am 1. März 1952 wurde Helgoland freigegeben. Der Wiederaufbau konnte beginnen.

800 Helgoländer konnten seither auf die Insel zurückkehren, 1200 warten daratif, in ihre neuen Häuser auf dem Oberland einziehen zu können. Sie sind Friesen und sprechen eine eigene Sprache, die deutsche, englische und holländische Worte enthält. Früher einmal war die Fischerei, vor allem der Hummerfang, ihr Hauptverdienst. In den letzten Jahren wurde dieser Krebs seltener, und der Nebenerwerb der Helgoländer zum Hauptberuf: Die Fischer haben sich auf das Ein- und Ausbooten der Besucher und auf den Verkehr zwischen Insel und Düne umgestellt, die Frauen halten Schnäpse, Rauchwaren und sonstige Dinge feil, die Helgoland auf Grund eines alten Privilegs zollfrei bekommt. An schönen Wochenendtagen zählen sie bis zu 5000 Gäste. 1957 haben fast 250.000 Menschen Helgoland besucht.

ABER WENN SIE WIEDER AN BORD SIND und die „Bunte Kuh“ und das „Wappen von Hamburg“ und wie sie alle heißen im Dunst verschwinden, dann ist Helgoland, was es immer war: der von Fremdenverkehr und Bomben unberührte, einsame rote Felsen in der Nordsee, und man versteht, daß sein Anblick die gelandeten Friesen zum Schweigen zwang.

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