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MEINE ERSTEN ZEITSCHRIFTEN

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Nicht in der Schule lernte ich lesen, sondern im Cafe Ra-detzky auf der Prager Kleinseite. Mein Vater pflegte es eine Zeitlang zu besuchen, obwohl es von unserer Wohnung entlegen war, gute drei viertel Stunden Weges durch die ganze Altstadt und über die Karlsbrücke. Aber mein Vater lieble Bewegung, und da er Witwer war und die löbliche Einrichtung von Babysittern im Prag von 1900 noch nicht bestand, nahm er mich in das Cafe Radetzky mit. Man bereitete dort den schlechtesten Kaffee der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, der aus ewigem „Loger“ aufgekocht war. Das Wort „Loger“ — mittels tschechisch akzentuierter Lautverschiebung von dem deutschen „Lager“ abgeleitet — bezeichnete den aus einem Minimum echter Kaffeebohnen und einem Riesenkontingent von Zichorie ausgekochten Kaffeesatz, der immer von neuem im Cafe Radetzky verwendet wurde, weshalb man über dieses zu sagen pflegte: „In deinem Loger ist Österreich.“

In meinem vierten Lebensjahr begann mein Vater mich mit dem Abc vertraut zu machen, und eines Spätnachmittags erklärte er: „Jetzt gehen wir lesen ins Cafe Radetzky.“ Diese erste Lektion vollzog sich an Hand der „Münchner Fliegenden Blätter“, deren rosa Papier und Bilderreichtum mich besonders anzogen. „Also paß auf“, befahl der Vater, „und lies!“ Ich buchstabierte daraufhin den Titel „O die-se Schwie-ger-müt-ter!“ „Gut“, sagte der Vater. „Was sind Schwiegermütter?“ fragte ich. „Das kommt später im Leben“, wehrte der Vater ab, „lies das nächste.“ Ich las: „O die-se Jung-ge-sell-en!“ „Sehr gut“, sagte der Vater. „Bitte, was sind Junggesellen?“ fragte ich. „Du bist ein Junggeselle“, antwortete der Vater. Ich war sehr stolz auf diesen neuen Titel und las daraufhin klaglos noch die Worte „Flitterwochen“, „Jägerlatein“, „Gardinenpredigt“ und aus den Inseraten „Bruchband“.

Diese erste Lektion wurde daheim durch das Studium der Zeitschrift „Bahn frei!“ ergänzt, die der Verein österreichischer Eisenbahnbeamter herausgab. Mein Vater ließ mich darin einen Aufsatz über einen neuen Rauchverzehrer für Lokomotiven lesen. Der Rauchverzehrer war von ihm selbst erfunden, und ich habe meinen Vater in Verdacht, daß er mich überhaupt nur lesen lehrte, damit ich den über ihn veröffentlichten Artikel kennenlernte, darin sein Name im Titel und auch mehrere Male im Text vorkam. „Siehst du“, sagte er, „so weit muß man es bringen, daß der eigene Name gedruckt wird.“ Den Aufsatz über den Rauchverzehrer mußte ich durch längere Zeit immer wieder zur Übung lesen, bis ich ihn auswendig kannte und sogar selbst von Erfindungen träumte, die ich machen würde, zum Beispiel einen Heizanzug, elektrische Rollschuhe, Motorflossen und eine Taschenflugmaschine.

In meinem ersten Schuljahr hatte ich sogleich Schwierigkeiten, weil meine Mitschüler erst buchstabieren lernten, ich aber längst alles zu lesen verstand. Deshalb langweilte ich mich, störte den Unterricht in jeder erdenklichen Weise und empfing daher gleich im ersten Schulzeugnis einen „Zweier“ aus „Sittlichem Betragen“. Der Vater versuchte mich in eine andere Schule einschreiben zu lassen. Aber der Schuldirektor — sein Name war bezeichnenderweise „Hackel“ — lehnte dies mit dem Bemerken ab, er könne seine Anstalt nicht mit Schülern von zweifelhafter Vergangenheit verpesten. So mußte ich im sechsten Lebensjahr in meiner früheren Schule bleiben. Der Katechet dort, ein Pater Roudnicky, ließ uns alle die katholische Kinderzeitschrift „Raphael“ abonnieren. Ich las darin mit besonderer Vorliebe in Fortsetzungen und mehrere Male eine Erzählung „Im Klosterfrieden“, als deren Autor ein Pater Gaudentius Koch zeichnete. Es war eine Geschichte über das Leben und Treiben der Mönche zur Zeit der Gründung des Klosters Benedikteuren. Diese Mönche gefielen mir großartig; sie führten ein gemütliches Leben, fuhren in Einbäumen auf dem See umher und christianisierten sämtliche Heiden, soweit das Auge reichte. Ich äußerte daraufhin mit sieben Jahren den Wunsch, Mönch zu werden, und hoffte mit zehn Jahren, es später bis zum Papst zu bringen. Aber mein Vater riet mir davon ab und empfahl mir die Eisenbahnerkarriere. „Schau“, sagte er, „der Papst kann nicht in Pension gehen. Hingegen habe ich jetzt nur noch 7766 Tage bis zu meiner Pensionierung, das heißt 21 Jahre, 3 Monate und 6 Tage, die Schalttage eingerechnet.“

Eine weitere Zeitschrift, die ich aber nur während der Ferien in der Sommerfrische las, war „Der Dorfbote“. Er erschien in Budweis in Südböhmen und enthielt nützliche

Anweisungen für Bauern, Vorschläge für Anbau und Ernte, Wettervoraussagen, weise Sprüche, Verhaltensmaßregeln im Falle aufgeblähter Kuhbäuche, Rezepte für saueren Ochsenfuß (das heißt Haussülze) und immer einen Fortsetzungsroman, darin böse Wilderer, rechtschaffene Förster, starrsinnige Bäuerinnen und hinterhältige Großknechte agierten.

Goethe sagte — lange vor Freud —, es glaube niemand, die ersten Eindrücke der Kindheit unterschätzen zu dürfen. Deshalb nehme ich meine ersten vier Zeitschriften wichtig. Sie zeigten mir sehr früh die burlesken Aspekte der Existenz, ließen erfindungsreiche Phantasien in mir aufkommen, demonstrierten, daß die Vereinsmeierei der machtvollste Lebensstil der Menschen sei, führten mir die Frömmigkeit in abenteuerlichen Einbäumen vor und lehrten mich, daß der Bauer kein Spielzeug sei.

Damit kann man schon allmählich weiterkommen. 1916 erschien in der Berliner literarischen Zeitschrift „Die Aktion“ mein erstes Gedicht. Ich hatte es also zumindest so weit gebracht wie mein Vater im Eisenbahnerblättchen mit seiner Erfindung. Er las das Gedicht und als echter Ingenieur sagte er: „Das hast du ja ganz gut zusammengestellt.“ Vielleicht erschien es ihm als ein Konzentrat aus den „Fliegenden Blättern“, „Bahn frei!“, „Raphael“ und dem „Dorfboten“, jedenfalls aber als ein Sc-Vvi'bsispiel dafür, wie man Expressionist w*rc*- Mit Genehmigung von „Wort in der Zeit“

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