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Nicht dem Geschick: dem Ungeschick ist es erlegen

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Wer die beiden Werke von Ludwig Reiners „Friedrich der Große“ und „Roman der Staatskunst“ kennt, wird in der vorliegenden geistvollen Ueber-schau alle Vorzüge des Autors wiederfinden: die funkelnde Sprache, den Reichtum an einprägsamen Formulierungen (deren eine diesem Referat vorangestellt ist), die Gabe, komplexe Charaktere zu entschlüsseln, kurz die Vorzüge eines Biographen von hoher Klasse.

Ging es nun hier, bei der Vorgeschichte und Geschichte des europäischen Zusammenbruches, der tragischen Epoche „Deutscher Weltpolitik“ in vordringlichem Maße um charakterliche Deutungen? Ja und neinl „Ja“, denn im Mittelpunkt steht die Gestalt Kaiser Wilhelms IL, des begabten und ziellosen Wortführers eines begabten und ziellosen Zeitalters. Bismarck hatte aus der letzten europäischen Großmacht Preußen die erste europäische Großmacht Deutschland gemacht. Von da an war seine ganze erstaunliche diplomatische Kunst, wie man sagen möchte, lum großen Teil darauf gerichtet, die Grenze zur „Weltpolitik“ weder fahrlässig noch vorsätzlich zu überschreiten. Seine Epigonen haben dies in der einen wie der anderen Weise getan. Der Kaiser, Holstein, Bülow, Bethmann-Hollweg und Tirpitz haben handelnd und unterlassend daran teilgenommen. (Aber auch der Mißgriffe auf der Gegenseite war Legion.) Und doch geht mit der Summe der Charaktere der beiden sich formenden, dann erstarrenden gegnerischen Fronten die Rechnung nicht restlos auf. Und damit kommen wir zum „Nein“. In dieser Epoche begegnen sich die Interessen von fünf Großmächten und einer Anzahl aktiver Kleinstaaten mit ihrem vielschichtigen Untergrund von wirtschaftlichen und politischen, sozialen, geistigen und nationalen Besonderheiten und Aspirationen. Läßt sich diese ungeheuer komplexe Problematik in so hohem Maße vom Persönlichen, den Leidenschaften, Vorzügen und Fehlern der handelnden Personen aus bestimmen? Steht wirklich ihre „menschliche Fehlleistung“ gegenüber ihren „fachlichen Fehlkonzepten“ im Vordergrund? Der Historiker Reihers ist hier gegenüber dem Biographen Reiners nicht genügend stark zu Worte gekommen. Und man hätte doch gerne das Lob, das dem letzteren gebührt, auf den ersteren ausgedehnt. In Summe: der Stoff widerstrebte der angewandten Methode.

Kleine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Von Werner Richter. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt, 176 Seiten. Preis 6.80 DM.

In derselben Sammlung, die Sieburgs geistreiche Kleine Geschichte Frankreichs und Sethas weniger gut geratene Rußlands brachte, veröffentlicht der glänzende Publizist Werner Richter, Biograph Washingtons und Lincolns, übrigens auch Kaiser Friedrichs, Ludwigs II, von Bayern und Kronprinz Rudolfs, dann Verfasser einer politischen Geschichte der Dritten Republik, eine ausgezeichnete Ueber-sicht der Entwicklung der USA. Sie arbeitet geschickt die Grundlinien des Geschehens heraus, erfreut durch farbige Porträts einiger führender Gestalten und scheut nicht vor dem eigenem Urteil zurück. In der Eile einer rasch, allerdings aus souveräner Sachkenntnis, hingeworfenen Darstellung unterlaufen gelegentlich kleine Unstimmigkeiten, so wenn (S. 91) John Quincy Adams als der erste Präsident bezeichnet wird, dem eine zweite Amtsperiode versagt blieb; schon Jefferson hatte von 1801 bis 1809 gewaltet, wenn die Ursache der Katastrophe des Kriegsschiffes „Maine“ von 1898, als bis heute von niemand gekannt ausgegeben wird, während die angebliche Schuld der Spanier längst widerlegt worden ist, und wenn die Roose-velt, deren Vorfahren schon in der Heimat dem holländischen oberen Bürgertum angehörten, irreführend als Nachfahren eines „Matrosen“ erscheinen. Zu bedauern ist, daß über die Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung nach Rassen und Ursprungsnationen ebensowenig gesagt wird wie über die Rolle der Konfessionen. Das allmähliche Anwachsen des Katholizismus, das Einströmen von Italienern und Slawen, dann — am neuralgischen Punkt New York — von Ostjuden hat gegenüber der anfänglichen Struktur einer vom nonkonformistischen Puritanismus gestempelten Volksgemeinschaft hohe Wichtigkeit. Man müßte auf diese Phänomene gerade im Zusammenhang mit der Aera der viermaligen Präsidentschaft F. D. Roosevelts hinweisen, mit der Richter sein Büchlein abschließt. Wie dem auch sei, der stoffreiche schmale Band ist zur ersten Einführung in das jeden angehende Thema aufs beste geeignet.

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