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Nimm und lies

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ICH, DER AUGENZEUGE. Roman. Von Ernst W e I s s. Mit einem Vorwort von Hermann Kesten. Kriesselmeler-Verlag, Iching, 1963. 280 Seiten. Preis 15.80 DM.

Wer liest schon gern und ohne schlechtes Gewissen Berichte, Erzählungen, gar Romane über die Hitlerzeit? Den Roman von Ernst Weiss — 1884 in Brünn geboren, 1940 durch Gift und Verblutung im Exil zu Paris in einem Hotel tot aufgefunden — liest man, weil man nicht glauben kann, daß dieses Buch ein Roman ist; es müßte eigentlich der Bericht eines Augenzeugen sein, ein biographisches Resümee. Ein junger Mann wird Arzt und heilt einen seltsamen Soldaten des ersten Weltkrieges, der an hysterischer Blindheit leidet — zugleich aber als Patient seinen Kameraden im Lazarett ebenso lästig fällt wie fähig ist, sie für seine Träume zu begeistern. Diese Heilung ist eines der vielen Schicksale des Augenzeugen; des Menschen, der dazu verdammt ist, zuzusehen, wie das „Zermalmende” (wie er es nennt) in der Welt, in seiner Umwelt umgeht. Dieser Ge- heftle T!st “kein iiraePel- als Adolf Hitler. Hat . der Arztaugenzeuge Schuld, auf sich . geladen,- diesen äysleriker3 zu heilen?” wenn nicht (weil es Pflicht des Arztes ist, zu helfen, zu heilen) — welche Tragik hat diese Heilung heraufbeschworen für ein Volk und für die Juden im besonderen! Ernst Weiss — sich vielleicht symbolisch mit dem „Arzt” identifizierend — zeigt die Dialektik von „blind und sehend”, von „krank und gesund”, von „helfend und zerstörend”, von „Pflicht und Verweigerung”, von „Funktion und Mensch-Sein”. Es ist ein aufklärender Roman für die Gründe Hitlers und unsere Mit-Ungründe, für die Über-Mächte, denen Hitler zu gehorchen schien, und die Unter- Mächte, denen wir nicht widerstanden. Außer diesem Ganzen des Romans entdeckt man einzelnes, wie es nur einem Dichter ein- und auffallen konnte.

DAS FRÄULEIN. Roman Von Ivo Andrif. Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Edmund Schneeweis. DTV 171, München, 1964.

Das „Fräulein” hat ein „Herz mit totem Wachs versiegelt”: Geiz und Besitzgier sind ihr Lebensinhalt. Erschütternd lebt der Leser mit, wie ein Mensch erkaltet und versteinert. Selbst als einmal die Lust zu Liebe auftaucht, läßt der Dämon keine Menschlichkeit mehr zu. Es ist hier ein schwerer, ein grausamer Roman geschrieben, der zeitgeschichtlich ein Bild von Sarajewo und Belgrad um die Zeit des zweiten Weltkrieges beschreibt und menschenkundlich „den Geizigen”.

DIE GARIBALDINA. Roman. Von Elio Vittorlni. Ins Deutsche übertragen von Eckart Peterich. DTV. 169, München 1964.

Eiti” Nieder Wesen, Leben und Landschaft Siziligis.Jn.,eįięr dargestellt.

Diė Baronin Leomlde aus Terräriöva hat unter Garibaldi gekämpft, gelebt, geliebt. Jetzt ist sie alt auf die selten gewordene Weise, daß sie originell, kraftvoll in Wille und Wort geblieben ist. Ein junger Bersagliere gerät auf einer Bahnfahrt unter die Gewalt dieses Ge- mischs von Weibtum, Kampfeslust, Romantik und Ironie. Wie in einem unwiderstehlichen Orkan wird man durch die 133 Seiten dieses Romans gerissen — man ist unheimlich beglückt.

DICH NEGERJUNGE. Die Geschichte einer Kindheit und Jugend. Von Richard Wright. Aus dem Amerikanischen übertragen von H. R o s b a u d. Fischer-Bücherei 557, Frankfurt, 1964.

Was uns Europäern sinnlos, überflüssig, unverständlich erscheint — das amerikanische Problem des Widerstreits zwischen der weißen und der schwarzen Rasse —, wird hier von Seiten eines bedeutenden „schwarzen” Künstlers dargestellt. Man wünschte, diese Geschichte des Negerjungen sei erfunden, sei ein Gruselmärchen, und spürt auf jeder Seite des Buches die grausame Realistik.. Diese Erzählung ist gar nicht „schön”, aber sie ist wahr, notwendig und von großem künstlerischem Format. Nimm und lies!

BEGEGNUNG IM VORRAUM. Erzählungen. Von Hans Erich Nossack. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt am Main, 1963. „Bücher der Neunzehn”, Bd. 97. 438 Seiten. Preis 9.80 DM.

Elf Erzählungen Nossacks sind elf Ereignisse, Erlebnisse, Kunstwerke. Drastische und phantastische Kulissen stehen vor und um menschliche Geschicke, die durch solche Bildkraft zu Symbolen werden: es blitzt immer auch das Unsagbare auf, das Geheimnis von Mensch, Leben, Welt, Sinn. Nicht einen überflüssigen Satz gibt es, alles ist dicht und zugleich durchsichtig. Es ist schwer, für Nossacks Kunst einen Nenner zu finden, und doch möchte ich vorschlagen, für die Tendenz des Dichters einen Satz aus der Erzählung „Die Schalttafel” zu wählen: „Alle Revolutionen pflegen ja nur deshalb so unbefriedigend zu verlaufen, weil die führenden Köpfe damit beginnen, ihre Umgebung zu revolutionieren, statt sich selbst.” Oder man lese die Erzählung „Am Ufer” — und entscheide daran Zustimmung oder Ablehnung dieser und der anderen dichterischen Aussagen.

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