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Noch eine Hexengeschichte...

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DICHTER ERZÄHLEN KINDERN. 36 Orlginalgeschichten deutschsprachiger Autoren. Im Verlag Friedrich Middelhauve, Köln. 286 Seiten. Preis 124.30 S. — SAGENREISE DURCH OBERÖSTERREICH. Von Franz Braumann. Im Oberösterreichischen Landesverlag, Linz an der Donau. 279 Seiten. Preis 98 S.

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DICHTER ERZÄHLEN KINDERN. 36 Orlginalgeschichten deutschsprachiger Autoren. Im Verlag Friedrich Middelhauve, Köln. 286 Seiten. Preis 124.30 S. — SAGENREISE DURCH OBERÖSTERREICH. Von Franz Braumann. Im Oberösterreichischen Landesverlag, Linz an der Donau. 279 Seiten. Preis 98 S.

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Wenn es konsequent nach dem Nachwort Heinrich Bölls für die von Gertraud Middelhauve zusammengestellte Kindergeschichten-Antho- logie ginge, dürfte es dieses Budi gar nicht geben. Denn Böll bemerkt sehr treffend, daß zwischen dem mündlich Erzählten und dem Geschriebenen ein Unterschied wie zwischen dem Himmel, in dem Ehen geschlossen, und der Erde, auf der sie gelebt werden, besteht. Was allerdings, so erkennt der aufmerksame Beobachter, die Dichter weder am Heiraten noch am Bücherschreiben hindert. Diesem Umstand ist also dieses Buch, das es nicht geben dürfte, weil der Augenblick des Erzählens unwiederbringlich ist, zu verdanken. Und wie die meisten Dinge, die es gar nicht geben dürfte, aber dennoch gibt, schon allein durch den Reiz des Verbotenen glänzen, so funkelt auch dieses Werk. Dem Kenner der neuen deutschen Literatur sind die Namen der Verfasser vertraut. Wie stellen sie sich an, diese Verfremder und Linkshänder, diese Profizornigen und Prosaexperimentatoren, wenn sie vor ein Publikum treten müssen, dem man keinen Ismus für Phantasie verkaufen kann? Wie bewähren sich diese Dichter vor den schwierigsten und kritischesten Hörern und Lesern, den Kindern? Dort, wo das Wort noch was wert ist und der echte Einfall, wo selbst die unirdischesten Geister pralles Leben und bunte Farbe haben müssen!

Diese Prüfung ist hart und nicht jeder von den Autoren, denen sonst eine freundliche Presse und eine gut geführte Gruppe den Erfolg vorformen, besteht sie. Sehr deutlich scheidet sich, was bloß Zynismus und Snob-Appeal ist, vom eigentlichen Humor. Wer ihn besitzt, hat auf alle Fälle schon eine günstige Ausgangsposition. Ohne Lokalstolz können wir bemerken, daß der einzige Österreicher des Bandes, Hans Carl Artmann, diesen Humor auch dann beweist, wenn er nicht schwarz ist. Die Herzlichkeit seiner Geschichte „Maus im Haus“ übertrifft die aller anderen Beiträge. Wobei man freilich probeweise etwa einen Norddeutschen fragen müßte, ob er diesem Gefühlsurteil aus österreichischem Empfinden zustimmen kann.

Aus der auffallend großen Zahl von Tiergeschichten muß man schließen, daß die meisten Dichter, wenn sie mit Kindern konfrontiert werden, zunächst in die Fauna flüchten. Heinz von Cramer bevölkert seine Kinderauslage mit Astronauten. Und ein paar Autoren bleiben, was sie auch für Erwachsene sind: absurd.

Der Band eignet sich nicht unbesehen zum Lese- und Vorlesebuch für Kinder. Aber er gibt den Erwachsenen, nachdem sie ihr rein literarisches Interesse befriedigt haben, eine Menge von Anregungen.

Der Rezensent gesteht, in der Achtung seiner Sprößlinge außergewöhnlich gestiegen zu sein, seit er als nacherzählender Plagiator an familiären Winterabenden aus dev Stoffülle dieses Buches schöpft. Für geplagte Väter, an deren Phantasie wegen poetischen Rufes von Kindern erhöhte Ansprüche gestellt werden, sei dies ein nicht zu unterschätzender Geheimtip für die Praxis.

Der Vergleich des Buches „Dichter erzählen Kindern“ mit Braumanns „Sagenreise durch Oberösterreich“ ist deswegen naheliegend, weil auch der Autor dieses Werks ein Dichter (sogar ein hervorragender Lyriker, wenngleich auf diesem Gebiete kaum bekannt) ist. Franz Braumann, dem sein Hauptberuf Schuldirektor wesentliche Hilfe für das „Handwerk“ des Nacherzählens gleicherweise wie Gefahr für den Stil ist, hat das an Sagenüberlieferung reiche Land ob der Enns mit einer Art Generalstabskarte von Sagenschwerpunkten überzogen. In seiner eigenen Familie aus dem

Hausruck, in einigen alten Bekannten und in der Sagen- und Heimatliteratur von Pöttinger und Depiny fand der Dichter die Quellen.

Braumann ist ein konservativer, gutmütiger Erzähler. Seine Geschichten knistern und brummen und raunen wie ein warmer Kachelofen. Die Unmittelbarkeit der Geschehnisse vermag zu fesseln. Dieses Buch ist ein wirkliches Lese-, Vorlese- und Hausbuch. Den Fernsehapparat sollte man allerdings zweckmäßigerweise abstellen, ehe man sich an Braumanns Lehrerhand in diese Sagenwelt der Hexen, Wassermänner und Burgfauste begibt. Denn mit dem Krimigruseln kann die ganze Sagenhölle Oberösterreichs nicht konkurrieren.

Dieses Sagenbuch eines Dichters ist weder ein wissenschaftliches noch ein psychologisches Werk. Aber es erfüllt in geradezu frappierender Weise die Forderungen, die Heinrich Böll an den guten Erzähler für Kinder stellt.

Nicht zum erstenmal ist die Antwort auf eine im deutschen Sprach- raum mit beschwörender Geste gestellte künstlerische Frage unabsichtlich und wie zufällig aus Österreich gekommen.

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