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Panoptikum des Humoristischen

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DREI HUMORISTISCHE ROMANE. (Onkel- chens Traum, Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner, Der ewige Gatte). Von F. M. Dostojewski. Verlag R. Piper & Co 591 Selten. 7 Seiten Nachwort von Friedrich Hitzer. DM 25.—.

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DREI HUMORISTISCHE ROMANE. (Onkel- chens Traum, Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner, Der ewige Gatte). Von F. M. Dostojewski. Verlag R. Piper & Co 591 Selten. 7 Seiten Nachwort von Friedrich Hitzer. DM 25.—.

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Jahrzehntelang hatte man sich damit begnügt, in Dostojewskis Werk die abgründigen, unheimlichen und „nihilistischen“ Züge wahrzunehmen, Verstiegenheiten, wenn nicht gar Ausgeburten eines kranken Gehirns. Das sowjetrussische System hielt diesen „reaktionären Finsterling“, der in seinen Romanen nur ein Zerrbild seines Landes geliefert hätte, praktisch bis zum Dostojewski- Jubiläum 1956 (dem 75. Todestag), unter einer Art Quarantäne. Mit der Entstalinisierung trat ein Umschwung ein. Dostojewski war von tiefer Unruhe und Sorge vor dem heranreifenden, revolutionären Umbruch erfüllt gewesen, „wie er nur alle paar Jahrtausende vorkommt“. Plötzlich entdeckte man den positiven Aspekt dieses Werkes: das durchgehende humanistische Pathos, das den universal humanitären Erwartungen der zum kosmischen Ereignis transzendierten kommunistischen Revolution verwandt schien. Die längst verlorengegangene Dimension irrationaler Verheißung, die Aura des Visionären, wie sie einmal für die frührevölutionären Epochen und noch für die zwanziger Jahre mit ihrer optimistischen Heilsbotschaft von der klassenlosen Zukunftsgesellschaft bezeichnend waren, sollten zurückerobert werden. Der jubelnden Versöhnung der Menschheit in der Internationale der Brüderlichkeit und der Liebe sollte sich Dostojewskis tätige All-Liebe in seinem Menschenbild gesellen, wie er es nicht nur in Thesen, sondern vor allem in Romanfiguren voll innerer Schönheit und Menschenwürde immer wieder gestaltet hat.

An einer Stelle seiner Einleitung zum 1. Band der 1956 zu erscheinen beginnenden vollständigen zehnbändigen Dostojewski-Ausgabe deutete der sow jetrussische Literaturhistoriker Waldimir Jermilow an, was eigentlich dieses Werk für alle, einschließlich der sowjetischen Leser, so aktuell mache: „Dostojewski fürchtete, daß das Chaos, die Gewalt unter der Maske der Aufgeklärtheit die Herrschaft über die Welt antreten, daß der Geist der brutalen Feindschaft, des Hasses, des Egoismus, des Zynismus über alles die Oberhand gewinnen, und daß einer Handvoll Gewalttätiger ' gegenüber der überwiegenden Mehrheit alles er laubt sein werde. Er fürchtete, daß der Menschheit die Kräfte fehlen wenden, um die Bestie zu überwinden, und das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens, das Gesetz der gegenseitigen Ausrottung triumphieren könnte.“ Und vieldeutig fügte Jermilow damals hinzu: „In Dostojewskis Erschaudern vor den unmenschlichen Gesetzen des Lebens lag viel Wahres.“ Die vor mehr als zwei Jahrzehnten gestellte Analyse hat für die unmittelbare Gegenwart nichts von ihrer Bedeutung verloren.

Wir sehen in Dostojewski vor allem den Schöpfer unheimlicher Charaktere und Romanschicksale, eines Gewimmels diabolischer Menschenwesen, in denen Genie, Wahnsinn, und Verbrechen nahe zusammenrücken. In allen seinen Romanen findet sich eine gewisse Gewalttätigkeit, Gewalt und das, was meist daraus folgt, nämlich Schmerz und Leid. Dennoch entzieht sich dieses Werk jeglicher einseitigen Definition und Einordnung, und zu Recht erklärt Friedrich Hitzer in seinem ergiebigen Nachwort: „Von den verschiedenen dämonischen Seelen, die Dostojewski in seiner Brust getragen haben soll, spielt das Zwerchfell eine entscheidende Rolle.“ Selbst seine größten Werke, vor allem „Der Idiot“, „Die Dämonen“, aber auch „Schuld und Sühne“, enthalten reichlich viele komische, burleske, vielfach sogar das Groteske streifende Szenen.

Humor ist ein von Grund auf humanistischer Wesenszug. Bei Dostojewski entsprang er der Liebe zu den Menschen, im besonderen zu den Russen und zu Mütterchen Rußland. Über alle offenbaren Häßlichkeiten und Lächerlichkeiten hinweg sollte der Humor die im Leben gar nicht liebenswerten Menschen und Landsleute liebenswert machen. Doch steht hinter dem Komischen bei Dostojewski immer etwas Unerwartetes, Bedrohliches. Sein Humor, dialektischer Gegenpart zum Tragischen, dient keinem Selbstzweck, eher dem Ausgleich der unerträglich gewordenen geistigen Spannungen.

Dostojewskis hervorragende Begabung für Situationskomik hätte den Epiker unter Umständen zum erfolgreichsten Lustspieldichter werden lassen können. (Wenn der Verbannte in den Briefen aus der peinvollen „Prüfungszeit“ — von 1849 bis 1854, vielmehr 1860 —, als der zum gewöhnlichen Soldaten degradierte. Offizier in einer sibirischen Garnison sich mühsam wieder nach oben diente, über literarische Pläne schrieb, berichtete er über beabsichtigte Komödien und komische Romane.) Sein (wie Gogols) größter Vorwurf war die russische Provinzgesellschaft, die Halben und Leeren der Zeit mit ihrer Unbildung oder Halbbildung, wandelnde Karikaturen.

Alles Lob gebührt der Übersetzung von E. K Rahsin, einem Sammelpseudonym, hinter welchem Namen sich mehrere Übersetzer verbergen und der noch heute verantwortlich für die Übertragung der Werke in der einzigartigen Dostojewski-Ausgabe im Piper-Verlag genannt wird. Den Übersetzern ist nur noch einmal zu bestätigen, was rühmlichst bekannt ist. Es scheint, daß sie in alle Falten der Sprache eingedrungen sind, in die breite und weite

Natur des russischen Menschen und seiner Erde, in diese Barbarei des Urtümlichen, die unter der zivilisatorischen Oberfläche immer wieder durchschlägt. Sie werden auch ganz der scheinbaren Weitschweifigkeit und Geschwätzigkeit gerecht, die sich bei Dostojewski aus dem bohrenden Analysieren des Herzens (wie Thomas Mann es in einem Essay genannt hat), aus dem Nie-verstum- men-Können, dem Immer-ausspre- chen-Müssen ergeben, in der einen Hoffnung, daß, wenn tausend Worte gesagt seien, vielleicht ein treffendes darunter sein könnte. So enthalten auch die drei humoristischen Romane ein Panorama und ein Panoptikum jenes unberechenbaren Kontinents, der uns heute nur zu nahe gerückt ist.

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