Judith Schalansky - © Foto Kain

Prosa der Verluste

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Am 2. Mai erhielt Judith Schalansky für ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ den ersten Sarah-Samuel-Preis für Kurzprosa. Die Laudatio.

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Am 2. Mai erhielt Judith Schalansky für ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ den ersten Sarah-Samuel-Preis für Kurzprosa. Die Laudatio.

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Während Judith Schalansky das Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ geschrieben hat, verglühte die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturn, eine Boeing 777 verschwand spurlos auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking, Unbekannte stahlen den Kopf der Leiche von Friedrich Wilhelm Murnau. Aus einem Labor der Harvard Universität verschwand die einzige Probe von metallischem Wasserstoff. An ihrer Herstellung hatte man 80 Jahre lang gearbeitet. Bis heute weiß niemand, ob das mikroskopisch kleine Partikel gestohlen oder zerstört wurde oder einfach nur wieder einen gasförmigen Zustand angenommen hat.

Gleichzeitig fand, während Schalansky schrieb, ein New Yorker Bibliothekar in einem Almanach des Jahres 1793 einen Briefumschlag mit mehreren Haarlocken von George Washington und im Sternbild des Schwans, 1400 Lichtjahre von der Sonne entfernt, entdeckte man einen Himmelskörper in einer sogenannten habitablen Zone, also in einem Bereich, in dem Leben prinzipiell möglich ist.

Während ich nun an einem Montag Mitte April damit begann, über mögliche Inhalte dieser Laudatio nachzudenken, habe ich angesichts dieser Vorbemerkung aus Schalanskys Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ darüber nachgedacht, was wohl auftauchen und verschwinden würde, während ich an diesem kleinen Text arbeiten würde. Am Abend des gleichen Tages brannte in Paris die Kathedrale von Notre-Dame nieder.

Einige Fernsehsender brachten stundenlange Live-Aufnahmen vom Brand. Der ORF wurde gescholten, dass er das nicht tat. Eine schottische Seherin erkannte die Umrisse von Jesus in den Flammen. Nachdem gegen Mitternacht klar war, dass die grundlegende Struktur des Gebäudes gerettet werden konnte, verkündete Präsident Macron, dass er die besten Fachleute aus der ganzen Welt beauftragen würde, die Kathedrale möglichst schnell wieder aufzubauen.

Aber der ganzen Welt war in diesen Augenblicken trotz der angekündigten Spendenflut klar: Notre-Dame würde nie mehr so sein wie früher. Auch darum geht es bei Schalansky: Um die schmerzliche Unwiederbringlichkeit von Dingen, das Nicht- Wahrhaben-Wollen des Verlustes und das Faszinosum der Leerstelle.

Zeitgemäße Formen

Die Jury des neuen Sarah-Samuel- Preises für narrative Kurzprosa war sich einig, dass es für das Auftauchen dieses Preises am Horizont der menschlichen Kulturgeschichte keine bessere Preisträgerin hätte geben können als Judith Schalansky. In ihrem Buch zeigt die Autorin nämlich nicht nur, dass die Gattungsform der Kurzgeschichte ein ganz und gar zeitgemäßes Erscheinungsbild haben kann. Nein, auch verwandte Formen des Genres (über den Bericht und die Montage bis hin zum Essay) werden hier als literarische Ereignisse im Feld eines wahrhaft gegenwärtigen Schreibens greifbar.

Warum wurde dieser Preis ins Leben gerufen? Die privaten Stifter, das Ehepaar Gerlinde und Harald Niederreiter, hatten den Eindruck, dass der deutschsprachige Literaturbetrieb derzeit zu stark auf die Gattungsform des Romans hin abgestellt ist. Dieser Eindruck ist ohne Zweifel richtig. So gut wie eine jede Erzählung, die es mit Ach und Krach auf einen gerade noch passablen Buchumfang bringt, bezeichnet man mittlerweile im Gattungstitel als einen Roman. Bände mit Kurzprosa hingegen erscheinen eher verschämt und oft nur wie nebenbei. Ganz so, als seien sie bloß Gelegenheitsarbeiten auf dem Weg zum nächsten Roman.

Die Kurzprosaarbeiten, für die der Sarah- Samuel-Preis gedacht ist, sollen unterhalb des Romans und der buchfüllenden Langerzählung und dabei doch noch in einem erkennbaren narrativen Umfeld angesiedelt sein. Eine dezidierte Einschränkung auf den Begriff der „Kurzgeschichte“ wurde überlegt, aber fallengelassen. Wohl auch deshalb, weil selbst eine so exakte Wissenschaft wie die Germanistik nicht mit letzter Sicherheit zu sagen vermöchte, was denn nun eigentlich eine Kurzgeschichte sei. Der spanische Lyriker Vicente Aleixandre hat die Sache auf eine offene und brauchbare Formulierung gebracht: „Eine Kurzgeschichte“, so sagt er, „ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist.“

Dies trifft auch auf die Kurzprosa von Judith Schalansky zu. „Verzeichnis einiger Verluste“ ist keine Sammlung verstreuter Texte, sondern ein durchkomponiertes Meisterwerk, das in besonderer Weise auf einer Vorstellung des Mediums Buch beruht. Schalanskys Buch besteht in seinem Kern aus zwölf Teilen, ein jeder für sich legt in unterschiedlichen Ausprägungen erzählender, berichtender, beschreibender und reflektierender Prosa einen Verlust dar, den die Menschheit erlitten hat.

Verzeichnis einiger Verluste‘ ist ein
durchkomponiertes Meisterwerk, das
in besonderer Weise auf einer Vorstellung
des Mediums Buch beruht.

Die Palette dieser Verluste reicht von ausgestorbenen Spezies wie dem Kaspischen Tiger und von frühen Naturforschern imaginierten Fabelwesen über verlorene Sammlungen, Gemälde und Schriften bis hin zum Palast der Republik, an den zwar noch viele Menschen, zumal in der ehemaligen DDR, eine persönliche Erinnerung haben, den es aber als reales Gebäude auch nicht mehr gibt. Mehrfach und teilweise sehr eng sind die beschriebenen Verluste mit der Biografie der Autorin verknüpft. Der Hafen der Stadt Greifswald beispielsweise, in der Schalansky im Jahr 1980 geboren wurde, findet sich als Motiv auf einem verschwundenen Gemälde von Caspar David Friedrich. Schalansky beschreibt in der Erzählung, die sie der Sache widmet, nicht das Bild, sondern eine Wanderung durch eine Landschaft, in der sich Gegenwärtiges mit einer sehr romantisch ausgestatteten Vergangenheit verzahnt. Nicht auf das pure Vorhandensein der Dinge oder ihre simple Rekonstruktion kommt es an, sondern darauf, im Erzählen aus ihnen etwas Neues zu machen.

Jeder der zwölf Abschnitte des Buches misst exakt 16 Druckseiten. Kenner des Buchdruckes, aber auch Menschen, die einmal bei der Verteilung von Farbabbildungen in ihrer Publikation sparen wollten, wissen, dass 16 Seiten exakt zwei Bögen Papier sind, von denen dann jeder einzelne Bogen im Buch einmal vorne und einmal hinten auftaucht. Judith Schalansky ist eine Expertin auf dem Gebiet der Buchherstellung. In ihren Büchern, allen voran dem 2009 erschienenen „Atlas der abgelegenen Inseln“ und auch in der von ihr herausgegebenen Reihe „Naturkunden“ legt sie auf den Einsatz buchgestalterischer Elemente großen Wert. Viele ihrer Bücher gestaltet die Autorin selbst.

Interessant ist, dass auch die Form der Kurzgeschichte auf einem medientechnischen Hintergrund basiert. Zur internationalen Blüte kam jene Art der Kurzprosa, die man – wie einer ihrer großen Meister, Edgar Allan Poe, sagt – in einem einzigen Lektüreakt aufnehmen kann, durch Zeitungen und Magazine, die spätestens ab dem 19. Jahrhundert an solchen Geschichten einen massenhaften Bedarf hatten. Bei Schalansky ist der zentrale Bezug auf das Medium Buch wohl auch gegen die zeitgenössischen Formen der digitalen Verbreitung gesetzt. Aus der Beschaffenheit des Buches und seiner inneren Logik erklärt sich, dass es im „Verzeichnis einiger Verluste“ exakt zwei Bögen Papier sein müssen, die der Prosa hier die Längenvorgabe machen.

Zwei-Bogen-Prosa

Man könnte die Gattung, die Schalansky kreiert, mit einem Begriff, den es noch nicht gibt, als eine Zwei-Bogen-Prosa bezeichnen. Jedem dieser Texte ist ein Titelblatt vorangestellt, das eine Abbildung des erlittenen Verlustes auf glänzendem vor mattem Schwarz zeigt. Zu sehen ist auf diesen Blättern nur dann etwas, wenn man sie schräg gegen das Licht hält. Die Unkenntnis dieser spezifischen Gebrauchstechnik hat, dem Vernehmen nach, beim Verlag schon zu Beschwerden geführt. Dabei fände man in dieser Art der Wahrnehmung die Quintessenz der ganzen Unternehmung. Denn nicht allein in den Titelblättern, sondern auch in den Textabschnitten geht es eben nicht darum, die erlittenen Verluste in ein Schaudepot der Menschheit zurückzustellen und so zu tun, als wäre mit ihnen ansonsten nichts geschehen.

Nein, das „Verzeichnis einiger Verluste“ ist keine museale Einrichtung. Das Buch ist auch überhaupt nicht sentimental. Vielmehr gibt die Autorin den verbrannten, verlorenen, versteckten oder auch nur achtlos weggeworfenen Dingen einen erzählerischen Gebrauchswert zurück, der sie unmittelbar mit der Gegenwart verbindet.

Angesichts des Brandes der Notre-Dame hat man die Vorstellung entwickelt, das Gebäude „schöner und prachtvoller“ wiederaufzubauen, als es jemals war. Schalanskys Buch beweist, dass solchen Tröstungen nicht zu glauben ist. Stattdessen setzt ihr Buch auf die ungeahnten Möglichkeiten der Literatur. Als Leser kam es mir bisweilen so vor, als würden die einzelnen Erzählungen und die Leerstellen, die sie schmerzhaft markieren, einen gemeinsamen Tanz aufführen. Lebendiger und gegenwärtiger als im „Verzeichnis einiger Verluste“ ist von Verlusten kaum je die Rede gewesen.

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